Aus der Coaching-Praxis: Bertriebsrat – Der Tiger frisst seine Jungen
Man sah dem Logistikunternehmer an, dass er am Ende seiner Kräfte war. Sein Unternehmen zur privaten Paketzustellung mit über 600 Mitarbeitern hatte vor einigen Jahren noch gut gelebt. Die Dienstleistungen hatten Alleinstellungsmerkmale. Im Rahmen des zunehmenden Wettbewerbs hatte er einen Druck auf die Preise hinnehmen müssen, sodass das Unternehmen kurz davor war die Gewinnzone zu verlassen.
Seit Jahren schon machte ihm ein neuer Betriebsratsvorsitzender zu schaffen, der nach seiner Auffassung aber nicht die Interessen der Belegschaft vertrat, sondern nur sein eigenes Ego und seine Selbstverwirklichung auslebe. „Das ist ein Tiger, der seine eigenen Jungen fressen würde.“
Die Vorstellung des Unternehmers war es, dass der psychologische Berater durch ein Coaching die Verhaltensweise dieses Betriebsratsvorsitzenden ändern sollte. Der Berater lehnte dieses Mandat ab mit dem Hinweis, dass sich psychologische Beratung nicht als Machtinstrument missbrauchen lasse. Er schlug vor, dass der Unternehmer zunächst an seiner eigenen Verhaltensweise arbeite. Möglicherweise lägen hier Verhaltensmuster begründet, die das Verhalten des Betriebsratsvorsitzenden auch provozieren könnten. Nach dieser Analyse könne man den Betriebsrat ebenfalls zu einem Coaching und später zur gemeinsamen Mediation einladen.
Der Unternehmer war zunächst nicht begeistert von diesem Vorschlag. Er sei doch nicht das Problem, sondern der andere. Als sich durch Streikvorbereitungen die Situation verschärfte, entschied man sich den Weg der Mediation zu versuchen.
Der Unternehmer und der Betriebsratsvorsitzende waren einverstanden, dass jeder für sich 10 Stunden Coaching in Anspruch nimmt, um jeweils mit seinem Coach an den eigenen Themen zu arbeiten und sich auf die Mediation vorzubereiten. Im Einzel-Coaching wurde Vertraulichkeit vereinbart, was ein wesentliches Instrument war, damit die beiden Kontrahenten sich mit ihren persönlichen Themen öffnen konnten.
In der Analyse ergab sich, dass der Unternehmer in seiner Kindheit oftmals unerträglicher Willkür ausgesetzt war. Die Eltern waren schon früh getrennt, entschieden aber beide für die Kinder da zu sein und das eigene Haus in zwei Wohnungen aufzuteilen, in denen jeweils ein Elternteil wohnt. Die Kinder lebten überwiegend bei der Mutter, die auch bald wieder einen neuen Partner fand. Dieser war freundlich im Umgang mit den Kindern, mischte sich jedoch nicht in Erziehungsangelegenheiten ein, da ja der Vater dafür im Haus sei.
Der leibliche Vater war aber beruflich stark eingespannt und sah seine Zuständigkeit nur während seiner Betreuungszeiten. So waren die Kinder im Wechselbad zwischen weiten und engen Freiräumen. Wenn alles lief, fühlte sich keiner so richtig verantwortlich. Gab es aber Probleme, dann wurde mit unverhältnismäßiger Härte zugegriffen (Bild Vater war auch ein Tiger). Der Klient bekam im Laufe seiner Schulzeit in einem Praktikum Kontakt zur Logistikbranche. Schnell merkte er, dass ihm zwar die Branche interessierte, er sich aber nur schwer einem Chef unterordnen konnte. Nach einer Ausbildung und einigen Jahren Berufserfahrung gründete er daher ein eigenes Unternehmen. Die Gründung war inzwischen 15 Jahre her.
Der Betriebsratsvorsitzende hatte einen schweren Start. Nach seiner Geburt sah sich die Mutter mit der Erziehung eines Kindes überfordert und ließ das Neugeborene in der Klinik zurück. Es dauerte 6 Monate, bis das Jugendamt eine Betreuungssituation vermittelte. Er wuchs dann bei Onkel und Tante auf. Im ständigen Bewusstsein „Ich bin nicht gewollt in dieser Welt“ suchte er nach Wegen Menschen zu helfen und damit seiner Existenz selbst einen Wert zu geben. Er begann als Fahrer in einem Logistikunternehmen. In der Rolle des Betriebsrats sah er seinen Wunsch nach Hilfe für andere am ehesten erfüllt. Nach einigen Jahren kurzer privater Beziehungen heiratete er eine deutlich jüngere Frau, die im Laufe der Zeit Karriere machte und vom wirtschaftlichen Status an ihm vorbeizog. So sah er sich in dem Druck für sich selbst und gegenüber seiner Frau den Beweis seiner eigenen Wichtigkeit anzutreten.
Beide Klienten lernten während des Coachings zu differenzieren, welche Gefühle der heutigen Zeit eigentlich in Ihre Kindheit gehören, welche Persönlichkeitsmerkmale von Bezugspersonen an Bezugspersonen der Kindheit erinnerten und wie dadurch ausgelöste Gefühle sich oftmals auf die „emotionale Autobahn“ brachten. Sie erkannten auch jeder für sich, dass der Andere möglicherweise Merkmale besitzt, die sie selbst auch haben und, die sie an ihnen selbst stören. Das Einzel-Coaching schloss ab mit einem Kommunikationstraining, in dem die Klienten lernten zunächst einmal zuzuhören, auf ihre Gefühle zu achten und diese auch zu kommunizieren.

Die anschließende Mediation war zunächst für die Mediatoren sehr anspruchsvoll. Immer wieder verfielen die Klienten in ihre ursprünglichen Verhaltensmuster und versuchten ihren Punkt durchzusetzen, ohne vorher die Argumente des anderen voll verstanden zu haben. Doch mit der Zeit gelang es zunehmend mehr, dass die Klienten die Position des Anderen und die dahinter liegenden Motive wirklich verstanden. In der sechsten Stunde gelang der Durchbruch. Nach einem Gefühlsausbruch des Betriebsratsvorsitzenden sagte der Unternehmer: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, wäre ich auch ganz schön wütend. Ich bin manchmal ja selbst so.“
Schließlich fanden die Parteien eine einvernehmliche Lösung. In der Nachbetrachtung war diese Lösung überraschend einfach. Die ausgehandelten Gehaltssteigerungen für die Belegschaft lagen nur unwesentlich über dem, was der Unternehmer für Gehaltssteigerung im nächsten Jahr ohnehin budgetiert hatte. Der Konflikt war offensichtlich nicht sachlich begründet, sondern lag weit überwiegend in der Persönlichkeit der Verhandlungspartner begründet.
Anm.: Zum Schutz der Privatsphäre unseres Klienten wurde das vorstehende Fallbeispiel verändert. Die Familiendynamik und die eingesetzten Methoden sind in ihren Grundzügen unverändert wiedergegeben.