Mehr Lebenslust durch Endlichkeit
Die Mobilisierung der Gesellschaft gegen die SARS-CoV-2-Pandemie ist auf vielen Ebenen eindrucksvoll, als Ausdruck von Angst, aber auch als aktive Abwehrleistung.
Mit reichen wissenschaftlichen und klinischen Ressourcen antworten wir darauf – unterstützt von der Fähigkeit, Zeitverläufe in mathematischen Modellen zu simulieren, um daraus Handlungsschritte in der Gegenwart ableiten zu können. Mit dieser zivilen Form einer allgemeinen Mobilmachung, stemmen wir uns gegen einen Virus, den wir als Angreifer auf unser System wahrnehmen. Die von der Pandemie ausgelösten, kollektiv belebten Phantasien von Systemzusammenbrüchen oder voreiligem Sterben bringen aber ein altes Konzept der Psychoanalyse in die Gegenwart zurück, den „Todestrieb“.
Der Todestrieb: Ein Konzept für mehr als eine Pandämie
Als die dritte Pandemiewelle der Spanischen Grippe 1920 über Europa gezogen war, publizierte Sigmund Freud einen Text, in dem er die Idee des „Todestriebes“ erstmals explizit in die Psychoanalyse einbrachte (Freud, 1920). Man weiß, dass er durch den Tod seiner in Hamburg lebenden Tochter Sophie, die 1919 an der Spanischen Grippe starb, ganz persönlich von der Epidemie betroffen war. Die Trauer beschäftigte ihn aber auch vor dem Hintergrund einer anderen kollektiven Schreckenserfahrung. 1918 war der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen, der nach anfänglich monarchistischer Begeisterung auch starke Spuren bei Freud hinterlassen hatte. Auch die Folgen der Traumatisierung bei den Frontkämpfern des Ersten Weltkrieg kannte er aus der eigenen Familie. Parallel wurde in der klinischen Arbeit ein neues Verständnis der Symptomatik der sogenannten „Kriegszitterer“ notwendig. Sein erster eigener Entwurf gründete in der Beobachtung der wiederkehrenden Alpträume von Kriegsheimkehrern, die in immer neuen Wiederholungen unlustbereitende Erinnerungen hatten (man erkennt darin heute unschwer die Flashbacks und Angstreaktionen von posttraumatischen Stress-Syndromen wieder).
Freud hatte in seinem Nachdenken darüber den dritten, großen Theorieentwurf angestoßen, mit dem er über die mehr oder weniger anschauliche klinische Erfahrung weit hinausging: Ausgehend von der Beobachtung, dass der psychische Apparat offenbar nicht durchgängig durch Triebprozesse charakterisiert sei, die dem Lustprinzip, also einer lustspenden Abfuhr von Triebspannung unterworfen wären, stellte er den libidinösen Lebenstrieben die Todestriebe gegenüber (Freud, 1920). Freuds – für uns alle zugängliche – Grundbeobachtung war, dass organisches Leben auf seinen Tod zustrebt, der es unabwendbar ereilen wird.
Zum Nullpunkt des Lebens
In der energetischen Terminologie der frühen Psychoanalyse kam das einem Trieb gleich, der alles Lebendige beherrscht, während er nach einer Rückführung des Organischen aufs Anorganische, auf den Nullpunkt des Lebendigen strebte. Freud verstand das als Metatheorie, in die die einzelnen Elemente der Psychoanalyse eingebettet waren. Der Begriff sorgte jedoch seit seinem Erscheinen für Irritationen und nährt bis heute Missverständnisse. Sollte tatsächlich alles Leben, gegen jede eigene Intuition von gesunden Zeitgenossen, vom Wunsch beseelt sein, zu vergehen? Gibt es einen unbewussten Drang zur Selbstvernichtung in uns, der sich als mehr oder weniger sadistische Aggression nach außen, oder als Masochismus nach innen kehrt? Hatte sich hier also die Psychoanalyse, die vorher so klinisch nah zu argumentieren schien, nun ins Reich schlecht fundierter, biologistischer Spekulationen bewegt? Hatte Freud da private Themen in eine allgemeine Theorie übersetzen wollen, an der er nun störrisch bis zum Ende seines Lebens festhalten wollte?
Dagegenhalten kann man dies: Vielleicht wird nirgendwo sonst in der psychoanalytischen Metatheorie deutlicher, wie sehr Freud um ein wirklich dynamisches, systemisches Verständnis der Psyche, oder besser: von Komplexität ringt. Dazu bedarf es möglicherweise einer Übersetzung in eine Sprache, die in der Frühzeit der psychoanalytischen Tradition nicht zur Verfügung stand (oder später abgewählt wurde). Was heute ganze Forschungsbereiche wie Complexity Theory oder Dynamic Systems-Theory beschäftigt, also die Frage nach dem linearen oder nonlinearen Verhalten von abhängigen Variablen, die sich unter Einfluss mehr oder weniger stabiler Parameter durch Netzwerke bewegen, wird im Todestrieb erstaunlich anschaulich illustriert. Er meint nichts anderes als die Tendenz eines komplexen Systems zu einem nur ihm eigenen stabilen Zustand – heute würden wir sagen: Steady State.
Business Coaching ist auch Übersetzungsarbeit
Mag sein, dass der Weg zu einer solchen lockeren Betrachtung aus dem psychoanalytischen Coaching nicht so weit ist, wie aus der klinischen Theorie. Konflikt- oder Business Coaching beruht auf der Übersetzung von Theorieelementen und Erfahrungen aus Kerngebieten der Psychoanalyse in andere Kontexte. Wenn man etwa Gruppendynamiken in einem Team unter dem Aspekt von Angst und ihrer regressiven Abwehr betrachtet, unternimmt man bereits einen Transfer von Begriffen und Dynamiken in ein Feld, das sich vom Einzelnen unterscheidet, an dem ursprünglich diese Anschauung gewonnen wurde. Praktisches Umgehen mit der Psychoanalyse, gerade auch im Business Coaching, verlangt also immer schon einen Transfer von Ideen in neue Zusammenhänge – sie sind Modelle, in denen man reale Dynamiken erfassen, verstehen und bearbeiten kann.
Freud beschreibt eine allgemeine Systemtendenz, die einzelne Entwicklungen in den Subsystemen überstieg. Sein Argument war biologistisch getönt: Egal wie lustvoll und energetisch wir unser Leben im Heute und Morgen leben, wird doch unserer Körper in seinen Prozessen einen langsamen Verschleiß- und Ermüdungsprozess durchmachen. Unter gegenwärtigen Bedingungen ist es unmöglich eine bestimmte, statistische Lebenserwartung zu überschreiten. Diesen Weg abzukürzen, also dem Tod entgegenzulaufen (das ist eine der Pointen des Freudschen Gedankengangs), ist aber ebenso unwillkommen und löst starke Gegenkräfte aus. Das ist das zentrale Charakteristikum dieses Systems, das nur durch die Namensgebung „Todestrieb“ so einschüchternd klingt. Wenn etwas wie der Sars-Cov-2-Virus (und dann noch massenhaft wie in der aktuellen Pandemie) unser Leben verkürzen oder beschädigen will, gibt es eine Mobilisierung aller Kräfte nach außen. Die Energie dafür liefert der Todestrieb als Lebensrhythmus selbst, der seinen lebenslänglichen, langsamen Takt um jeden Preis verteidigt.
Energie im System
Angelehnt war Freuds Denken an die Erkenntnisse der Physiologie seiner Zeit, die das naturwissenschaftliche Milieu Wiens prägte, insbesondere die Ideen des deutschen Physiologen Fechner und seines Vermittlers Brücke, in dessen Wiener neurologischem Labor Freud als Forschungsassistent arbeitete. Diese Naturwissenschaftler dachten im Rahmen der chemischen Thermodynamik, verbunden mit der Idee, es gebe Erregungslevels, die der seelische Apparat für sein optimales Funktionieren zu halten versuchen würde. Die Tendenzen zum Ausgleich von Energie in solchen Systemen lassen sich klar in die Metaphorik von Trieb übersetzen. Von heute aus betracht, drängt sich hinter diesem manifesten Modell mit dem Freud arbeitet, ein zweites latentes Modell auf. Es ist die statistische Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik durch Freuds Zeitgenossen und Landsmann Ludwig Boltzmann, der das „Wärmegleichgewicht“, das alle Systeme anstreben, als Zustand höherer Wahrscheinlichkeit gefasst hatte. Es sind Ausgleichsbewegungen, die eingebauten Gesetzlichkeiten in einem System folgen.
Spätestens hier eröffnet sich eine Verbindung, Triebe insgesamt, auch den Todestrieb, als Tendenzen in Systemen aufzufassen, die ineinander geschachtelt sind. Wie lässt sich diese Grundidee übersetzen?
Übertragen auf den Wirtschaftskontext bedeutet das:
- Einzelhandlungen sind im Zusammenhang mit unserer Persönlichkeit zu betrachten
- Kommunikation ist im Zusammenhang von Dyaden (2 Personen) zu verstehen
- Arbeitsgruppen sind von ihrer Position in größeren Teams bestimmt
- Teams und Einzelne müssen im Kontext der Firma betrachten werden
Jedes dieser Systeme hat seine Einzelcharakteristika, mit denen es in größere Systeme eingebettet ist, die jeweils ihre eigene Tendenz haben. In diesen Systemen wird jeweils ein eigener Weg verfolgt, der dem ersten Widerstreben mag, oder mit ihm übereinstimmt. Sichtbar wird dieses oft konflikthafte Zusammenspiel in immer neuen Wiederholungen. Die Vergegenwärtigung der darin angelegten Prozesse hilft in der Analyse von Gruppendynamiken, beim Verständnis des oft sehr energiereichen Beharrens von etablierten Systemen gegen Veränderung im Change Management, aber auch beim Verständnis des selten reibungsfreien Zusammenwirkens von eigener Persönlichkeit mit eigenen Veränderungswünschen. Moderne Formen des psychodynamischen Business Coachings erweitern diese Sicht um eine Netzwerk-Perspektive (Western, 2013).
Damit wird es möglich, über die Entwicklung von Systemen nachzudenken, in denen verschiedene, voneinander abhängige Variablen miteinander in Beziehung stehen. Wer sich vergegenwärtigt, wie sich darin Prozesse von Stagnation oder Veränderung denken lassen, und welche Widerstände und Reibungen im Aufeinandertreffen von Systemen entstehen, hat ein Modell zur Verfügung, dass sich auf viele Fragestellungen anwenden lässt. Ein Grund mehr, keine Angst vor dem „Todestrieb“ haben zu müssen. Tatsächlich kündet er von der großen, bloß nicht immer reibungsfreien Lust – zu leben, zu lieben und zu arbeiten.
Robert Weixlbaumer, Psychologe und Coach bei dynaMind
Quellen:
Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
Western, S. (2013). Leadership. A critical text (2. ed.). London: Sage Publications.