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Psychoanalytisches Business Coaching

Die Illusion der Unabhängigkeit – Klimawandel begreifen

Am Thema Klimawandel scheiden sich die Geister. Trotz einer bis zur Corona-Krise hohen medialen Aufmerksamkeit und trotz zahlreicher Nachweise über die existentiellen Folgen der Klimaerwärmung aber blieben die politischen und wirtschaftlichen Handlungstendenzen, gelinde gesagt, eher milde. Mehr noch, es gibt Studien, die zeigen, dass bei steigender Anzahl empirischer Nachweise sogar die Anzahl derjenigen wächst, die die Existenz eines Klimawandel gänzlich bestreiten. Wie kann das sein?

Das Thema Klimawandel kann nur verstanden werden, wenn die psychische Dimension dieser Debatte verstanden wird. All der Widersprüchlichkeit ist mit Fakten alleine nicht beizukommen. Die Debatten um den Klimawandel sind hochemotionalisiert und auch Menschen, die weniger rigide klimatische Veränderungen leugnen, beschleicht zuweilen ein nagendes Gefühl von Widerstand, den hochemotionalisierte und damit hysterisch anmutende Debatten eben manchmal hinterlassen.

Eine menschliche Umweltneurose

Wir sind von der Erde und ihrer Gesundheit existentiell abhängig. Das ist keine überzogene Umweltromantik, sondern eine Tatsache. Wir brauchen eine gesunde Biosphäre, gesunde Nahrungsmittel, eine ausgewogene O2/Co2 Bilanz und stabile Pole. Und wir wissen um die Gefahr, die unserem Klima droht, von den Meeren, die vermüllt sind, von den schmelzenden Polen und von den Ländern, in denen die klimatischen Bedingungen das Leben nahezu unmöglich machen. Wenn wir weiter denken, dann wissen wir, dass die aktuellen Kriege um Ressourcen nicht die letzten sein werden, und dass wir diese Perspektive unseren Kindern und Enkeln zumuten: Die Perspektive in einer unsicheren Welt zu leben. Und wir verabschieden niederschwellige Klimapakete, diskutieren weiterhin um eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen und beuten die natürlichen Ressourcen der Erde aus, als hätten wir eine zweite. Eine solche Widersprüchlichkeit als neurotisch zu beschreiben, wie es der Begriff der Umweltneurose tut, scheint schon beinahe eine Verharmlosung, angesichts der psychischen Leistung, die wir täglich vollbringen, diese beiden Wirklichkeiten innerlich getrennt zu halten.

Starke Gefühle in der Klimadebatte

Die Antwort auf all diese Widersprüche kann nur verstanden werden, wenn wir uns ein wenig tiefer in diese Komplexität der menschlichen Psyche wagen. Gefühle sind in unserer Welt meistens in intimen, persönlichen Beziehungen verortet. In Unternehmen und in der Politik sind sie, wenn überhaupt, dann nur sehr selektiv Thema. Wer die Reaktionen auf Greta Thurnbergs hochemotionale Rede beim UN-Klimagipfel im April 2019 verfolgt hat, der sieht vor allem eins: Inhaltlich schien die Rede weniger zu wirken als in ihrer Emotionalität und diese Emotionalität war es, die ebenso starke Antworten ausgelöst hat. Idealisierung, Entwertung bis hin zu offenem Hass schlugen der Aktivistin real und medial entgegen. Greta Thurnberg wagte es, das Ausmaß der Klimakatastrophe zu spüren und ihre Emotionalität offen zu zeigen. Die medial dominante Frage war, ob Emotionalität in einer solchen Debatte angebracht ist und wenn ja, wie viel. Aber spannend angesichts der Faktenlage ist die Frage doch viel mehr: wie schaffen WIR es eigentlich, angesichts der Fakten noch so wenig zu spüren?

Das Gefühl von Freiheit ist eine Mango im Winter

Es gibt keine Garantie, dass es keine Erderwärmung von über 3% geben wird. Sich einer solchen Wahrheit innerlich zu nähern, würde bedeuten, sich Gefühlen von Hilflosigkeit und Angst auszusetzen. Es kommt nicht häufig vor, dass wir derart existentiell mit Fragen der Abhängigkeit und letztendlich auch der Sterblichkeit konfrontiert werden. Es braucht eine bestimmte Form der innerseelischen Kraft, sich dem auszusetzen und, damit verbunden, auch unsere Art zu denken und zu leben in Frage zu stellen.

Denn deutlich wird, wir müssten uns verändern und Gewohnheiten aufgeben, politisch, wirtschaftlich und persönlich. Aber an dieser Stelle werden ganz andere Ängste wach: Wer sind wir, wenn wir uns nicht darüber definieren, was wir besitzen und erreicht haben? Freiheit, Selbstbestimmtheit und persönlicher Wachstum scheinen uns existentiell, wir werden panisch und wütend, wenn wir uns begrenzt oder von anderen kontrolliert fühlen. Wir wollen selbst entscheiden, koste es was es wolle. So erleben wir Gefühle von Freiheit und Wert mit 180 km/h auf der Autobahn oder beim Einkauf von Dingen, die wir vielleicht nicht unbedingt gebraucht hätten.

Das ist der Konflikt. Es geht weniger um die Frage, ob es einen Klimawandel gibt oder nicht. Sondern welche Ängste stärker sind: die des Verlusts von Sicherheit oder die des Verlustes von Freiheit und Selbstbestimmung. Existenzängste treffen auf narzisstische Ängste. So weit ist das wahrscheinlich den meisten nichts Neues. Dass rechtskonservative oder liberale Parteien Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung vor Werten wie Bindung und sozialer Gerechtigkeit stellen ebenso wenig wie die Tatsache, dass diese Positionierung häufig mit einer klimaskeptischen Haltung einhergeht.

Narzisstische Ängste, wie die Angst um den Verlust der persönlichen Freiheit, des Selbstbildes oder sozialen Status haben einen starken Einfluss auf die innerpsychische Organisation und sogar auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. In unserer westlich, kapitalistisch geprägten Welt- und Erlebensordnung spüren wir unsere Selbstbestimmung meist nicht IN der Beziehung zu anderen sondern gerade außerhalb und damit auch konträr zu diesen. Freiheit bedeutet für uns, uns außerhalb einer als versorgend, aber auch beengend erlebten Bindung zu bewegen. Was aber passiert in diesem Falle mit unserer Empathie und wie verliert die Beziehung zum Anderen (also auch unsere Beziehung zur Natur) dann seine emotionale Bedeutung?

Fluchtwege aus der Abhängigkeit

Ich muss ein wenig weiter ausholen, um eine solche Beziehung zur Wirklichkeit und damit auch zu anderen Menschen oder zur Erde zu beschreiben. Vorab vielleicht ein Beispiel aus der Genese einer solchen Beziehung. Stellen Sie sich vor, ein Kind ist noch klein. Wenn es sich erschreckt, wenn es Angst hat, dann kann es sein Erleben noch wenig einsortieren. Gefühle scheinen das Kind in all ihrer Heftigkeit zu durchfluten. Erst mit der Hilfe einer liebevollen Bezugsperson lernt das Kind seine Gefühle zu unterschieden, zu verstehen und sich zu beruhigen. Heute als Erwachsene können Sie das für sich alleine. Sie haben gelernt, sich wahrzunehmen und sich zu regulieren. Manche können das mehr und manche weniger, das ist abhängig von unseren frühen Erfahrungen und wir alle haben die Menschen und das Erleben unserer Kindheit internalisiert. Wir beruhigen uns so, wie wir in unserer Kindheit beruhigt wurden. Auf ganz intuitive und unbewusste Weise. Wenn aber unser Erleben in jungen Jahren wenig gespiegelt oder sogar zurückgewiesen wurde oder wir für die narzisstischen Bedürfnisse unserer Eltern „benutzt“ wurden, dann erleben wir auch als Erwachsene bedürftige Momente und Abhängigkeiten als Schwäche oder Kränkung. Dann fühlt es sich beschämend an, bedürftig zu sein. Wir schützen uns dann und ziehen uns aus der Verletzlichkeit einer intimen Beziehung heraus und kappen unsere Sehnsucht dem dem anderen, und manchmal auch allen anderen, innerlich wie ab. Das ist ein Prozess von Verleugnung (der emotionalen Bedeutung des anderen) aber auch der Abspaltung von Gefühlen. Schließlich erlebt man sich als unangreifbar und mächtig in seiner Unabhängigkeit. Ein Gefühl der Omnipotenz stellt sich ein, niemanden zu brauchen ist ein Triumph über bisherige Gefühle von Kränkbarkeit und Verletzlichkeit. Wir haben alle diese Option in uns, uns aus Verletzlichkeiten herauszuziehen. Alle, die schon einmal lange einer verlorenen Liebe nachgeweint hat, kennen den Moment, sich wieder auf sich zu beziehen, einen Schnitt zu machen. Zu beschließen, dass es nun wieder um sich selbst gehen muss. Das Begehren, so würden Analytiker*innen sagen, wird vom anderen abgezogen. In diesem Moment scheint eine neue Freiheit zu entstehen: ich bin frei von Bedürftigkeit, von Unsicherheit und Angst. Um sich vollständig unabhängig zu fühlen und auch um den diffus quälenden Schuldgefühlen auszuweichen, die ein solches Abschneiden der Empathie beinhaltet, muss ein solch innerer Schnitt radikal erfolgen. Es muss eine Art der Spaltung sein. Im Falle der verlorenen Liebesbeziehung macht eine solche Bewältigungsstrategie auch meist Sinn, sei es um sich wieder neu auszurichten. Schwierig wird es, wenn die Option, sich von Bedürftigkeiten abzuschneiden und sich aus Abhängigkeiten herauszuziehen eine dauerhafte, persönlichkeitsstrukturelle oder gar gesamtgesellschaftliche Strategie wird.

Mit einem Auge blind

Denn wie es dem Kind das emotionale Überleben gesichert hat, sich von seiner Sehnsucht nach behütenden Eltern abzuschneiden, so scheinen wir mit der Bedrohung durch den Klimawandel umzugehen. Wir schneiden uns von unserem emotionalen Erleben und unserer Verantwortung ab. Um eine solche Abspaltung der Wirklichkeit aufrecht erhalten zu können müssen wir in Folge dann selektiv werden in unserer Wahrnehmung. Wir bauen sie um die Spaltung herum auf: Verleugnung, Halbwahrheiten und Rationalisierungen begleiten diesen Vorgang. Wir verdrehen Wahrheiten und wir denken Szenen nicht zu Ende, wenn sie „gefährliches Terrain“ berühren. Wir schieben dann Fakten zur Seite und Unangenehmes wird nur flüchtig registriert. Je stärker der Druck der eindringenden Momente von Wirklichkeit, desto stärker wird unsere Abwehr, desto unvernetzter und mechanischer denken wir und desto mehr vermeiden wir Momente von Emotionalität. So gesehen ist die Tatsache des Anstiegs der Anzahl von Klimaleugner bei steigender Zahl empirischer Nachweise erklärbar, denn je stärker das Erleben von Bedrohung desto radikaler muss die Verleugnung sein. Wir werden zunehmend manischer werden in unserem Bemühen, das Erleben von Angst zu vermeiden. Die sich zu spitzenden Klimaveränderungen, die wachsende Arm-Reich Schere und weltweite Kriege um Ressourcen zeichnen sich auf diese Weise in uns ab.

Ein Blick auf die aufgeladene Klima- und Flüchtlingsdebatten veranschaulicht die Folgen einer solchen Spaltung sehr deutlich. Wer Zusammenhänge zu Ende zu denkt, der versteht, dass es unser Umgang mit Ressourcen war, der den Klimawandel und die Ausbeutung ärmerer Regionen in der Welt stark mitbedingt hat. Die dazu angemessenen emotionalen Reaktionen wie Bedauern oder Schuld werden aber von uns wenig ausgehalten. Das eigene Täter-Sein scheint an dieser Stelle unerträglich und so organisiert sich die Psyche einen narzisstischen oder, wie die Psychoanalytikerin Delaram Habibi-Kohlen es nennt, „perversen“ Raum, in dem wir frei sind von Schmerz und Schuldgefühlen. Wir realisieren und spüren sie nicht mehr, die Bedrohung, die in der zuspitzenden Klimakatastrophe liegt oder die Tatsache, dass die Erde zunehmend weniger gut bewohnbar ist. Unser Begehren und unsere Bedürfnisse drehen sich nicht mehr um andere (s), sondern um uns selbst, um unsere Freiheit und unsere Selbstbestimmung. Die diffus erlebte Bedrohung projizieren wir auf andere: z.B. die Geflüchteten, die zu uns kommen, eine derart projizierte Bedrohung scheint innerpsychisch leichter handelbar als das Ausmaß unserer eigenen Zerstörungsfähigkeit und Unverbundenheit. Damit rutschen wir aus der Ambivalenz in einen Zustand von scheinbarer innerer Ordnung: Das Gute und das Böse sind wieder aufgeteilt. Wir müssen nicht ertragen, dass wir empathisch fühlen können UND Täter sind – in jedem Moment, den wir verstreichen lassen.

Radikalisierung oder doch lieber moralische Überheblichkeit?

Die Zuspitzung unserer Situation zeigt sich auch in unserer Suche nach Entlastung von Schuldgefühlen und Verantwortung. Der Wunsch nach einem autoritären Führer eignet sich dafür hervorragend. Eine Studie der Universität Leipzig zeigt, dass sich 40% der Deutschen vorstellen können, wieder in einer autoritären Regierung zu leben. Psychodynamisch kann dies als eine Art der Bereitschaft zur Autorität verstanden werden, ein solcher Wunsch nach Autorität ist meist Ausdruck davon, dass die persönliche, innerseelische Bewältigungsfähigkeit nicht mehr ausreicht. Unsere Psyche hat im Normalfall eine recht gut ausgebildete moralische Instanz. Wir können es auch verinnerlichten Werte nennen. Wenn Gefühle von Angst und die Schuld nicht mehr erträglich werden, dann ist es jedoch möglich, diese Instanz abzugeben. Wir suchen uns idealisierte Führer, die uns frei machen von der Spannung unserer unangenehmen Affekte und inneren Konflikte. Ein solcher Prozess entlastet unser Gewissen, andere übernehmen dann die Verantwortung für uns. Das Prinzip ist alt, in der aktuellen Zeit eines zunehmenden Populismus ist es Ausdruck unserer psychischen Unfähigkeit, uns der Wirklichkeit zu stellen. So ist es kein Wunder, dass der Prozentsatz der Klimaleugner höher wird, desto autoritätszugewandter eine Partei ist.

Es ist schwer, an dieser Stelle nicht moralisierend zu reagieren, aber wer das tut, hat direkt einen neuen Ausweg aus der inneren Spannung gefunden. Moralische Überheblichkeit versteckt sich gern in linksliberalen Haltungen. Demokratisch, empathisch und ökologisch nachhaltig machen wir alles „richtig“ – eine solche Art der Abwehr aggressiver aber auch libidinöser Selbstanteile ist weit verbreitet. Es ist zwar kein ganz aktueller Artikel, aber der Psychoanalytiker  Andre Green hat dazu einen smarten Beitrag geschrieben unter dem Stichwort „moralischer Narzissmus“, im Grunde eine analytische Perspektive auf den populistisch aufgeladenen Begriff des „Gutmenschen“. Es ist möglich, mit Biosiegeln und veganer Ernährung, durch Intellektualisierung und sogar durch Hyperemotionalisierung eine Form der Abwehr aufzubauen. Es ist nicht leicht, an dieser Stelle in der Wahrnehmung fein zu bleiben. Aber wenn Haltungen rigide werden und Lust und Aggression beginnen, sich gefährlich anzufühlen, dann könnte es sein, dass der biologische Konsum mehr der eigenen narzisstischen Aufwertung und der Stabilisierung einer Dominanzkultur dient als dem, worum es eigentlich geht.

Was aber ist die Lösung? Selbstkasteiung und depressives Verharren in Schuldgefühlen ist es sicher nicht. Achselzuckend Phänomene der Umweltzerstörung beiseite zu schieben oder in Verleugnung zu verharren sicher auch nicht, ebenso wenig ein hysterisches Agieren von unbewussten Ängsten. Eine emotionale Überdramatisierung dient sicherlich auch keinem und weckt nur Reaktanzphänomene.

Das Zugrundeliegende Begreifen

Wenn wir uns der Wirklichkeit, die der Klimawandel bedeutet, stellen wollen und dabei handlungsfähig bleiben wollen, dann wird es wichtig sein, die psychische Dimension dieser Wirklichkeit zu begreifen und nicht zu agieren. In unserem Umgang mit der Natur, die uns nährt, wird vor allem eins deutlich: die hochambivalente Hassliebe, die wir in uns haben, zu dem, von dem wir uns abhängig fühlen, und unser gefühltes Recht auf die sofortige Erfüllung unserer Bedürfnisse. Wir sind auf diese Weise aufgewachsen, materiell abgesichert, im Credo unendlichen Wachstums und der allumfassenden Möglichkeiten. Unsere Eltern, Kriegskinder und Nachkriegskinder haben sich tapfer an an der Idee allumfassender Möglichkeiten für ihre Kinder und Enkel festgehalten, an der tragischen Hoffnung, dass noch mehr Wachstum und mehr Wohlstand reichen würden, um glücklich zu sein. Wir sind im Glauben aufgewachsen, dass über materiellen Wohlstand Glück transportiert wird, und dass die Fortschritte der Medizin, Technologie und Digitalisierung ausreichen würden, um anstehende Probleme zu meistern.

Gesprochen wurde darüber allerdings selten, vor allem im Westen Deutschlands war der Wachstumsglaube mehr eine Art von Begleitmusik, ein alles bestimmender Versuch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber viele von uns, der heute 30-50-Jährigen, sind mit einem diffusen Unbehagen aufgewachsen. Wir wussten, dass etwas fehlte. Wir spürten und spüren etwas verlorenes, etwas halt- und orientierungsloses. Die radikalen Veränderungen durch die Digitalisierung haben das sicherlich verstärkt, aber unser Unbehagen gab es in uns schon früher. Wir bekamen es selten ganz zu greifen, aber auf eine bestimmte Weise erlebten wir uns als unverbunden, als sprachlos mit unseren Eltern und als haltlos in uns selbst. Die materielle Verwöhnung machte es uns unmöglich über die Wut unserer emotionalen Unversorgtheit zu sprechen, Konflikte auszutragen und Gefühle von Hass und Schmerz zu integrieren. Zudem trug sie dazu bei, dass wir Grenzen wenig entwickelt haben und Gefühle wenig aushalten können. Wenn derartige Gefühle aber nicht ertragen, ausgedrückt und integriert werden können, dann entwickeln sich Schuldgefühle und unter Schuldgefühlen sind keine nährenden Bindungen möglich. Unsere Bindungen bleiben ambivalent und in unsere Liebe mischt sich unser Bemühen, unsere aggressiven oder gierigen Impulse unter Kontrolle zu bekommen.

Wer sich einmal aus Bindungen herausgezogenen hat und gelebt hat auf Kosten anderer, der weiß um die Konsequenzen der diffusen Schuld- und Schamgefühle. Im Westen finden wir die Arroganz und das Schuldbewusstsein eines älteren Geschwisterkindes, das das Neugeborene in einem Moment quält und ignoriert, in Anwesenheit der Eltern dann in überheblicher Milde knutscht. Wir schwanken zwischen konkurrierenden Territorialansprüchen und Entwicklungshilfeprojekten, zwischen Umweltausbeutung und rigiden ökologischen und Ernährungsregeln. Bereit, die eigenen Privilegien abzugeben, sind wir nicht. Wer sich derartige Widersprüche genauer betrachtet, der beginnt ein Gespür für die Spaltung und die Unverbundenheit unserer inneren Welt zu bekommen. Es scheint eine Art der Hassliebe zu sein, die uns mit der um uns liegenden Welt verbündet.

Die latente Sehnsucht nach Verbundenheit

Es ist diese Art der Bindung die wir heute zur Natur haben und mit ihr einher geht eine noch immer ungestillte Sehnsucht nach Versorgung und wirklicher Verbundenheit. Im 21.Jahrhundert ist Vernetzung einer der primären Faktoren in der Entwicklung kultureller, sozialer und technischer Möglichkeiten. Gleichzeitig erleben wir eine zunehmende Individualisierung, eine starke Betonung von Autonomie und Freiheitswünschen und eine zunehmende Fragilität unserer Bindungen. Wie wir uns vernetzen verändert sich unaufhörlich. Wir vernetzen uns digital und global, und wir gehen neben Partner- und Freundschaften auch Beziehungen ein mit unserem Handy oder mit fiktiven Figuren aus Serien. Skype, Sprachnachrichten, Instagram und Serien prägen unser Gefühl von Zugehörigkeit auf eine sehr andere Weise. Sich alleine zu fühlen scheint fast nicht mehr möglich, und ist als latentes Gefühl doch omnipräsent. Diese latente Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Verbundenheit ist es – für sie gehen Millionen von uns auf die Straße bei den Klimademonstrationen für ein besseres Klima. Aber Verbundenheit kann und muss noch mehr bedeuten als gemeinsam zu demonstrieren. Sie bedeutet eine neue innere Haltung, in der wir uns Brüche in unserer Wahrnehmung vergegenwärtigen und getrennte Wirklichkeiten zusammenführen. Wir brauchen den Mut, Ambivalenzen und Ambiguitäten in uns zu tolerieren, anderen zuzuhören und nicht auf Feindbilder auszuweichen oder die Verantwortung an Autoritäten abzugeben. Handeln wird aus dieser Haltung heraus eine Selbstverständlichkeit – und das ist dringend nötig, denn sonst wird es heiß hier bei uns.

 

Andrea Wurst, Coach bei dynaMIND