Die zwanghafte Gesellschaft in der Corona-Krise
Der Ruf, der uns Deutschen vorausgeht: Wir seien ordentlich, pünktlich und fleißig. Oder um es in den Worten von dem Psychologen Gottfried Barth zu sagen: „Wir Deutschen neigen zur Zwanghaftigkeit.“ In Zeiten der Corona-Krise zeigen sich diese Tendenzen vielleicht einmal mehr, ob im Hamstern von Klopapier oder Nudelpackungen, vielleicht aber auch in mancherorts peniblem Einhalten der von der Regierung beschlossenen Maßnahmen. Aber wieso tendieren wir zum zwanghaften Verhalten?
Die Funktion der Zwanghaftigkeit
„Zwang sichert das Subjekt vor ständig andrängenden, Unruhe stiftenden Impulsen. Zwang scheint so ein fundamentales Sicherungsbedürfnis des Menschen zu erfüllen“ (Lang, 2000, S. 258). Demnach hat das zwanghafte Verhalten die Funktion unvorhersehbare Bereiche des Lebens unter eine scheinbare Kontrolle zu bringen, in dem der Fokus auf kognitiv-gesteuerte Handlungen gesetzt wird (Lang & Koepsell, 2018). Durch Handlungen wie das Hamstern von Klopapier erreichen wir also eine Art Kontrollerleben.
Die Psychoanalyse der Zwanghaftigkeit
Freud hat diesen Wunsch nach Kontrolle, Ordnung und Reinlichkeit auf die sogenannte anale Phase (2.-3. Lebensjahr) zurückgeführt. In dieser Zeit lernen Kinder ihre Ausscheidungen und damit den eigenen Körper zu kontrollieren. Gleichzeitig kommt das Kleinkind auch erstmals mit den Anforderungen der Umwelt in Berührung: Dem Wunsch der Eltern, dass das Kind möglichst schnell „trocken“ werde und sich an die Regeln halte. Wenn die Bezugspersonen des Kindes nun rigide Normvorstellungen vorleben, beispielsweise in Form eines auf Bestrafung ausgerichteten Erziehungsstiles, können diese vom Kind internalisiert werden und später (3.- 6. Lebensjahr) zur Ausbildung einer starren, Schuldgefühle hervorrufenden Gewissensinstanz führen.
In der analen Phase können Kleinkinder noch nicht zwischen Sprechen, Denken und Handeln unterscheiden. Gesagtes wird als real eintretend angenommen: Ein Kind, das den Wunsch das neugeborene Geschwisterkind solle doch zu den Nachbarn gebracht werden ausspricht, geht in dem Moment der Aussprache von der Erfüllung dieses Wunsches aus. Nach Freud können Menschen, die in der Kindheit eine starre Gewissensinstanz ausgebildet haben, im Erwachsenenalter auf die anale Phase fixiert sein. Bei diesen Menschen, dem sogenannten „analen Charakter“, entstehen Schuldgefühle also auch dann, wenn diese keinen realen Taten, sondern lediglich aggressiven Wünschen oder Gedanken entsprungen sind, wie sie dies als Kleinkinder annahmen.
Das zwanghafte Verhalten der analen Charaktere dient der Abmilderung des ausgeprägten Schuldbewusstseins. Es geht dabei um eine Beschwichtigung der Gewissensinstanz durch sogenannte „magische Rituale“ (Boessmann & Remmers, 2016) – wie das Hamstern von Klopapier. Das Klopapier als Symbol für die Reinigung gibt dem zwanghaften Menschen das Gefühl die Schuld „weg-zu-reinigen“ und damit seine Angst vor der Bestrafung abzumildern. Es wird der Versuch unternommen schuldbesetzte (aggressive) Wünsche oder Gedanken ungeschehen zu machen.
Die Zwanghaftigkeit in der Corona-Krise
Durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie werden Grundrechte der Menschen, wie Ausgangsbeschränkungen, Kontakt- und Versammlungsverbote, eingeschränkt. Auch wenn dies laut Infektionsschutzgesetz (IfSG) rechtens ist, können diese Einschränkungen der Freiheit zu Aggressionen führen. Aggressive Gedanken und Wünsche gegenüber der Regierung und den Entscheidungsträgern müssen von zwanghaften Menschen unterdrückt werden. Dadurch entstehende Schuldgefühle müssen nun durch zwanghafte Handlungen als eine Art Kompromissbildung abgemildert werden. Auf der einen Seite werden die Regeln und Maßnahmen der Regierung – ganz im Sinne der äußeren Fügsamkeit (Lang & Koepsell, 2018) – eingehalten. Auf der anderen Seite kann die Aggression innerhalb dieses Rahmens passiv ausagiert werden: Durch das Hamstern von in der Krise als wichtig erachteten Produkten versucht man sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. In eben diesen Hamster-Momenten geht es nicht um Solidarität oder Gemeinschaftssinn. Vielmehr geht es um die Erfüllung und Sicherung eigener Bedürfnisse. Auch wenn anderen dabei etwas weggenommen wird. Lang (2015) spricht in diesem Kontext von einem „gehemmten Rebellen“. Es gibt aber auch die aktiveren Rebellen der Corona-Krise: Diejenigen, die sich versammeln, um gegen die Einschränkung ihrer Freiheit und Grundrechte zu demonstrieren, wie dies beispielsweise vergangene Woche am Brandenburger Tor in Berlin geschah. Eine aktivere Form gegen die Kontrolle von außen zu rebellieren und Aggressionen innerhalb des rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmens auszuagieren.
Fazit: Gesellschaft vs. Individuum
Die Zwanghaftigkeit der Deutschen scheint historisch gewachsen und in unseren Grundwerten verankert zu sein. Insbesondere in Krisen erleichtern uns diese Mechanismen – im präklinischen Bereich – einen Umgang mit veränderten Umweltanforderungen zu finden. In der Corona-Krise kommt dabei dem Klopapier eine bedeutsame Rolle zu. Es scheint als vermittle uns das Hamstern eben dieses Hygieneartikels ein Gefühl von Kontrolle. Schuldgefühle aufgrund aggressiver Impulse werden „weg-gereinigt“ und Aggressionen im sozialen verträglichen Rahmen ausagiert. Die Frage, ob die gehemmten oder aktiveren Rebellen einen besseren Umgang mit den Herausforderungen der Corona-Krise gefunden haben, bleibt offen. Klar ist: Auch wenn derartige Tendenzen in Deutschland oder vielleicht der ganzen westlichen Welt beobachtbar sind, sind wir dennoch alle verschieden und damit auch die Ausprägung der Zwanghaftigkeit einer und eines jeden.
Psychologin (B.Sc., M.Sc.) Leonie Derwahl
Quellen
Boessmann, U. & Remmers, A. (2016). Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten Richtlinientherapie – Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grund-begriffe, Diagnostik und Therapietechniken. Berlin: Deutscher Psychologen Verlag.
Lang, H (2000a). Zwang in Neurose, Psychose und psychosomatischer Erkrankung. In Lang, H., Strukturale Psychoanalyse. Gesammelte Aufsätze, Bd.1. Frankfurt a.M.: Surhkamp.
Lang, H. (2015). Der gehemmte Rebell – Struktur, Psychodynamik und Therapie von Menschen mit Zwangsstörungen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Lang, H. & Koepsell, K. (2018). Zwangsstörungen. In Gumz, A. & Hörz-Sagstetter, S. (Hrsg.), Psychodynamische Psychotherapie in der Praxis. Weinheim Basel: Beltz Verlag.