Neues Jahr, neues Glück? – ein Plädoyer für mehr Chaos im Leben
Jedes Jahr zum Jahreswechsel überlegen sich Millionen Menschen weltweit (grobe Schätzung) gute Vorsätze für das kommende Jahr. Manche reflektieren ihre Ziele des letzten Jahres, andere starten einfach optimistisch und spontan in den Vegenuary (keine tierischen Produkte) oder Dry January (kein Alkohol).
Stress vermeiden und mehr Zeit für Familie und Freunde führen die Hitliste der Vorsätze für 2021 an
Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage mit über 3.500 Befragten viel es 51% der Befragten in 2020 schwerer ihre gesetzten Vorsätze auf Grund der Corona-Krise umzusetzen. Wiederum gaben 29% an, durch den Lockdown und die Kontaktbeschränkungen, keine Veränderungen in der Motivation ihre Vorsätze umzusetzen zu erfahren. 19% der Befragten fiel es sogar leichter die gesetzten Ziele zu erreichen, im Vergleich zu Vorjahren.
Gute Vorsätze für 2021
- Stress vermeiden oder abbauen (65 Prozent)
- Mehr Zeit für Familie/Freunde (64 Prozent)
- Umwelt- bzw. klimafreundlicher verhalten (63 Prozent)
- Mehr bewegen/Sport (60 Prozent)
- Gesünder ernähren (53 Prozent)
- Mehr Zeit für mich selbst (51 Prozent)
- Abnehmen (34 Prozent)
- Weniger Handy, Computer, Internet (28 Prozent)
- Sparsamer sein (28 Prozent)
- Weniger fernsehen (20 Prozent)
- Weniger Alkohol trinken (15 Prozent)
- Rauchen aufgeben (11 Prozent)
Auf die Frage, ob sie sich in 2021 bewusst nichts vornehmen, weil es sich ohnehin schwieriger umsetzen ließe, reagierten 49% der Befragten mit Zustimmung, 51% stritten dies ab. Ein deutlicheres Bild ergab sich bei den über 60-jährigen: 57% von ihnen setzen sich bewusst keine neue Vorsätze für das neue Jahr.
Das Selbst und das Idealselbst
Der Drang sich verbessern zu wollen und „die bester Version von sich selbst“ zu werden ist verständlich und menschlich. Wir alle haben eine Vorstellung von uns, wie wir gerne sein möchten und wie wir von anderen gesehen werden möchten – unser Idealselbst. Unser tatsächlichen Eigenschaften und Fähigkeiten bilden unser Realselbst. Weichen unser Idealselbst und unser Realselbst zu sehr voneinander ab kann es zu Minderwertigkeitsgefühlen kommen. Was wir als Realität erleben ist dabei abhängig von unseren Erlebnissen und unserer Wahrnehmung.
Der Wunsch nach Kontrolle
Viele Menschen wünschen sich Balance in ihrem Leben, heißt, sie wollen die verschiedenen Bereiche ihres Lebens so gut wie möglich in Einklang bringen. Morgens in Ruhe ein gesundes Frühstück zusammen mit den Kindern genießen, mittags bei der Präsentation vor den Kolleg*innen glänzen, nach der Arbeit zum Sport, der Schwester zum Geburtstag gratulieren und abends, nach einem (erneut gesunden) Abendessen, sich noch mit Freund*innen treffen. Die Realität sieht dann manchmal eher so aus: morgens herrscht Chaos und es gibt Cornflakes mit Milch statt Smoothie-Bowl und Zen, man vergisst die Präsentation zu Hause, der Schwester wird drei Tage zu spät gratuliert und statt Sport fällt einem ein, dass man sich für den Notdienst beim Hort eingetragen hat. Vom Hort aus bestellt man Pizza und die Freunde werden einen weiteren Monat warten müssen (oder bis nach dem Lockdown).
Klar, solche Tage sind vielleicht (oder hoffentlich) eher Ausnahmen, aber es bleibt der Drang bei vielen Menschen mehr Ruhe und Gleichgewicht in ihr Leben bringen zu wollen. Sie wünschen sich mehr Kontrolle.
Die meisten von uns sind keine Seiltänzer
Wenn wir über ein „Leben in Balance“ sprechen, klinkt es häufig als müssten wir an bestimmten Stellschrauben drehen, gleichmäßig die Gewichtung unserer verschiedenen Lebensbereiche verlagern, um endlich leichtfüßig durchs Leben zu tanzen. Doch diese Vorstellung ist zu starr und sie impliziert, dass man alles im Leben kontrollieren kann, vorausgesetzt man strengt sich genug an. Wenn man nur hart genug an sich arbeitet, erreicht man irgendwann das perfekte Gleichgewicht und ist endlich glücklich. In Wahrheit lassen sich viele Berufe nicht leicht mit dem Einsatz für eine Familie vereinbaren. Zudem sind Menschen sehr unterschiedlich. Wer sich also 80% seines Alltags mit der Arbeit beschäftigt, auch unter der Dusche oder auf dem Weg zur Schule mit den Kindern, denkt vielleicht dies ändern zu müssen. Doch wenn es dir gut damit geht, musst du das nicht. Genauso kann jemand glücklich damit sein, viel Zeit mit der Familie oder in der Natur zu verbringen und damit, dass die Arbeit nur wenig Zeit und einen geringen Stellenwert einnimmt.
Warum der Wunsch nach Balance nicht nur unmöglich, sondern auch nicht besonders erstrebenswert ist
Der britische Schriftsteller und Mitgründer der School of Life Alain de Botton geht in seinen Gedanken zu dem Thema Lebensbalance noch etwas weiter. „So etwas wie ein Leben im Gleichgewicht kann es für uns nicht geben“, erklärt er in einem Video. „Wir sind komplexe Wesen, agieren in einer so komplexen Welt, dass wir immer wieder gestört werden, uns in Multitasking verzetteln, gefühlsmäßig durcheinander sind.“ Für de Botton ist der Wunsch nach einem Leben in Balance und der gut strukturierten Aufteilung in verschiedene Lebensbereiche nicht nur unsinnig. Wir Beschränkung uns damit auch unnötig. Um dies zu demonstrieren zeigt er im Video die Grafik eines menschlichen Gehirns. Nach und nach erscheinen Stichworte, was dieses außergewöhnliche Organ alles in der Lage ist zu leisten, wie etwa „ein Kind großziehen“, oder „ein kleines Unternehmen im asiatischen Markt platzieren“, aber auch „ein Attentat zu planen“. Nach und nach kommen immer mehr Fähigkeiten dazu, sodass klar wird: unser Gehirn hat das Potential für so viele, unterschiedliche Fähigkeiten. Wir sind in der Lage so viel zu erfahren, zu bewirken und zu leisten, dass wir alle immer eher dazu neigen zu viel zu tun. Den Preis den wir für unsere Vielfältigkeit bezahlen ist, dass wir zwangsläufig weniger gut in den verschiedenen Aufgaben sind, für die wir uns entscheiden und die das Leben an uns heran trägt, als jemand der sein Leben lang sich auf eine Aufgabe konzentriert, z.B. Spitzensportler. Unsere Möglichkeiten bringen also auch Unruhe und Unwägbarkeit mit sich. „Wenn wir das akzeptieren, entscheiden wir uns für Offenheit und nicht-perfekte Vielfalt, statt fehlerfreien Fokus.
2020 – das Jahr des Chaos und was wir daraus mitnehmen können
Natürlich ist es nicht verkehrt, auch einmal innezuhalten und zu reflektieren, ob das was unser Leben ausmacht, sich für uns stimmig anfühlt, oder ob wir Veränderung wollen und warum. Genauso ist es verständlich, dass wir uns in unserer schnelllebigen Welt des Informationszeitalters, voller gesellschaftlicher Umwälzungen, nach Ruhe und Besonnenheit sehnen. Doch mit dem Emporheben von Ruhe und Gelassenheit als Idealbild und der Erklärung von Unruhe und Chaos zum Feindbild, tun wir uns keinen Gefallen.
Gerade das Jahr 2020 hat uns gezeigt, dass wir nur wenige Dinge im Leben wirklich kontrollieren können. Wenn Ängste und Unsicherheit in uns größer werden, ist ein Weg unserer Psyche damit umzugehen, sich auf die Suche nach Dingen zu begeben, die wir kontrollieren können (z.B. der Volkssport des Aussortierens oder auf eine gesunde Ernährung zu achten).
Trotzdem dürften viele Menschen erfahren haben, dass sich aus dem Chaos und der Belastung heraus auch neue Ideen ergeben, z.B. für die Kinderbetreuung und das wir aus Spannungsmomenten auch Wachsen können, weil wir gezwungen sind neue Wege zu gehen. Grenzsituationen, auch wenn sie beängstigend und schmerzhaft sein können haben mitunter die Wirkung unseren Blick zu schärfen für das, was uns wichtig ist und was wir wirklich wollen.
Ein möglicher Grund für den Wunsch nach Ruhe – verschüttete Sehnsüchte
Es ist gut möglich, dass der Wunsch nach mehr Balance und Kontrolle schlichtweg bedeutet, dass bestimmte Bedürfnisse in unserem Leben nicht genug Raum haben, unsere Sehnsüchte zum Teil verschüttet sind. Was unser Leben lebenswert macht, was uns „erfüllt“ oder „antreibt“ ist für jeden unterschiedlich und eine Eigenschaft, die uns dabei helfen kann uns auf die Suche danach zu begeben ist etwas, dass wir uns von unseren Kindern abschauen können – Neugierde. Anstatt uns zu Verurteilen, wenn unser Leben nicht in geregelten Bahnen verläuft, egal ob durch äußere Umstände oder dadurch, dass wir selbst durch Nachjagen von neuen Ideen immer wieder Unruhe in unser Leben bringen, kann es uns erleichtern das Unwägbare, die Lücke in unserem Leben anzuerkennen. Den gerade dadurch haben wir Raum zu manövrieren und neugierig zu bleiben für Veränderung.
Sophie Grußendorf, Coach bei dynaMIND