Prokrastination – eine Chance für persönliche Weiterentwicklung
Manchen begegnet sie nur selten, manche kennen sie als ständige Begleiterin mit am Schreibtisch sitzend: die Erfahrung der Prokrastination kann alles sein, von irritierend bis quälend. Einer aktuellen Studie zufolge erleben nur zwei Prozent der Deutschen niemals Phasen von Aufschieben und Vermeiden. Was genau aber versteckt sich hinter dem weit verbreiteten Phänomen der Prokrastination? Und wie kann es sein, dass wir ihm an mancher Stelle so ausgeliefert zu sein scheinen?
Prokrastinieren am Arbeitsplatz– ein Zeichen von Faulheit?
Eben noch Mails checken, den Schreibtisch aufräumen, am Handy daddeln oder sich im Netz verlieren. Der menschlichen Kreativität, relevante Aufgaben zu vermeiden, scheinen an manchen Tagen keine Grenzen gesetzt, während unsere Arbeits-, aber auch unsere Lebenszeit verstreicht. Drängende Aufgaben, längst fällige Entscheidungen oder andere relevante Schritte stehen an und dennoch ist es uns manchmal nicht möglich, aktiv zu werden. Dabei ist Prokrastination nicht immer ein Zeichen von Müdigkeit oder gar Faulheit. Manch geübte*r Prokrastinierer*in sitzt gequält vor dem Rechner und fragt sich, wie um Himmels willen es schon wieder möglich war, den gut geplanten Vormittag so verstreichen zu lassen? Zur nicht erledigten Aufgabe kommen im Verlauf ein schlechtes Gewissen und zunehmend auch berufliche und persönliche Schwierigkeiten.
Den Nutzen verstehen
Wer das Phänomen der Prokrastination genauer betrachtet, wird feststellen, dass auch Intelligenz, Wissen und gute Vorsätze nicht ausreichen, um sie zu vermeiden. Prokrastinierende scheinen nicht Herr*in im eigenen Haus zu sein, nicht gänzlich die Kontrolle über sich zu haben. Aber was genau passiert eigentlich in ihnen?
Wie eigentlich immer im psychoanalytischen Denken kann liegt die Antwort in der Frage nach ihrem Nutzen: Welchen bewussten oder unbewussten Sinn mag es für die Betroffenen haben, ihre Arbeit aufzuschieben? Auf diese Weise psychodynamisch Denkende werden in einer Ecke fündig, die auf den ersten Blick absurd erscheint: Nämlich den Nutzen, die Arbeit NICHT zu erledigen. Aber wie kann das von Nutzen sein, wenn jede Faser des Körpers danach ruft, endlich fertig zu werden, weil draußen die Sonne scheint?
Tiefer schauen
Der Nutzen, die Arbeit nicht zu erledigen, ist sicherlich an mancher Stelle einer Erschöpfung oder Überarbeitung zuzuschreiben. Aber vor allem bei chronifizierter Prokrastination mag der Nutzen nicht erledigter Arbeit ein noch tiefer sitzender sein.
Dazu muss ich ein wenig weiter ausholen. In uns allen schlummern Erinnerungen an die Vierjährigen, die wir mal waren. Vielleicht haben Sie Kinder, dann erinnern Sie sich wahrscheinlich gut an diese Phase ihrer Entwicklung– Vierjährige lieben das NEIN. Mit wahrlichem Vergnügen leisten sie in genau denjenigen Situationen Widerstand, in denen wir ihr Funktionieren am dringendsten gebraucht hätten. Sei es nun, um morgens pünktlich in den Kindergarten und dann zur Arbeit zu kommen oder in anderen Momenten, in denen es wirklich drängt. NEIN. Es scheint unseren Kindern in genau diesen Momenten eine Genugtuung, uns ihre Wünsche lautstark deutlich zu machen. Sie sind so stark wie nie in diesen Momenten und äußern ihre Wünsche sehr selbstbestimmt – es ist eine Befreiung von der Abhängigkeit von uns, die sie ansonsten tagtäglich in jedem Moment erleben. Sie spüren sogar für einen winzigen Moment unsere Abhängigkeit von ihnen. Und NEIN zu sagen, das macht dann natürlich am meisten Freude, wenn der Druck am höchsten ist. Oder auch am meisten Sinn, denn es erzeugt die stärkste Reibung und damit auch das stärkste Gefühl zu sich selbst und den eigenen Autonomiewünschen. Wer NEIN sagt spürt seine Autonomie.
Die heimliche Rebellion
So ist es auch, wenn Sie im Büro vor Ihrem Schreibtisch sitzen. Draußen scheint die Sonne, aber eines erleben Sie mehr oder weniger bewusst, während Sie vertrödeln und aufschieben, nämlich Ihre Rebellion. Und Ihre Entscheidung, diese Aufgabe, die vor Ihnen liegt, nicht zu machen. Aber wie kommt Ihr Unbewusstes dazu, zu rebellieren und sich zu verweigern, wenn doch andere, bewusstere und rationalere Teile von Ihnen verstehen, wie sinnvoll es wäre, die Aufgaben jetzt zu erledigen, um sich dann den schöneren Seiten des Lebens zuzuwenden? Andere scheinen ja auch über eine gesunde Autonomie zu verfügen und sie erledigen dennoch anstehende Aufgaben und gehen dann fröhlich und äußerst autonomen ihren Freizeitwünschen nach.
Psychodynamisch zu denken bedeutet an dieser Stelle auch Biographiearbeit. Sie können sich fragen, wie in Ihrer Kindheit mit Ihren Autonomiewünschen umgegangen wurde? Welche Leistungs-Standards gesetzt wurden und vielmehr noch, welches Maß an Kontrolle Ihrer Bedürfnisse Sie verinnerlicht haben? Wenn Sie an die eben beschriebene kurze Sequenz denken, in dem das Kind, das seine Schuhe anziehen soll, ein gellendes NEIN schreit und den Vater, der es eilig hat, in den Wahnsinn treibt. Wie wurde eine solche Situation in Ihrer Familie gelöst? War es Ihren Eltern möglich, Ihnen die Würde zu lassen und das Gefühl von Autonomie zuzugestehen und dennoch an wichtigen Stellen Grenzen zu setzen und das Ruder nicht aus der Hand zu geben?
Psychodynamisch zu denken bedeutet, die verinnerlichten Werte und Beziehungen unter die Lupe zu nehmen. Sie werden sich wundern, aber wenn Sie heute am Schreibtisch sitzen und sich um ihre Freizeit trödeln, dann scheint es noch immer eine*n Vierjährige*n in Ihnen zu geben mit einem großen NEIN, und es scheint noch immer Ihre Antwort zu sein, darauf mit noch mehr Druck zu reagieren, was das NEIN an dieser Stelle dann zu einem Ausdruck von Selbstbestimmtheit macht.
Sie können sich fragen: Wo in meinem Leben kontrolliere ich mich zu viel? Wo kann ich genießen und libidinös erleben? Wo lasse ich los und gehe meinen Wünschen nach? Gerade Menschen mit hohem Leistungsdruck, Perfektionsansprüchen und der Neigung, Situationen gerne unter Kontrolle zu haben, erleben schon kleinste Fehler häufig als gravierend und neigen zu Vermeidung und dieser Art der passiven Aggressivität oder „inneren Rebellion“. Ihre Aggression durfte nur selten laut und offen sein. Aber auch das NEIN der Vierjährigen hat seine Berechtigung und ist Ausdruck eines grundlegenden Wunsches. NEIN in Form einer Prokrastination als Erwachsener bedeutet, dass in Ihrem Leben vielleicht die Balance aus Kontrolle und libidinösen Erfahrungen nicht stimmt. Dass Sie Ihr Leistungskorsett und Ihren Perfektionismus so eng geschnürt haben, dass nur noch Verweigerung möglich ist.
Frustrationstoleranz muss gelernt werden
Sicher gibt es auch prokrastinierende Menschen, die als Kind nie etwas mussten. Verwöhnung ist die andere Seite der Medaille und verwöhnte Kinder haben auch als Erwachsene häufig Schwierigkeiten, Grenzen zu akzeptieren und das Glück zu erleben, das es bedeuten kann, sich anzustrengen, über den wunden Punkt zu gehen und in einen Arbeitsflow zu kommen. Eine solche Dynamik ist vergleichbar mit einem Sog in süchtiges Verhalten. Der leichte Weg, das schnelle Glück. Eine zentrale Fähigkeit ist die der Frustrationstoleranz und verwöhnte Kinder habe diese häufig nur sehr wenig verinnerlicht. Sie sind nur begrenzt in der Lage, ein klares inneres Bild von sich und ihren Zielen zu entwerfen, es zu halten und zu verfolgen. Wenn es anstrengend wird, kann der damit einhergehende Moment von Unlust nicht ertragen und ausgehalten werden, auch wenn es langfristig gravierende Schwierigkeiten mit sich bringt, was ja am Bild der Sucht sehr deutlich wird.
Anerkennen der eigenen Grenzen
Wer an dieser Stelle jedoch tiefer schaut, der kann auch hier das Vermeiden als eine Reaktion auf Druck erkennen. Denn auch Verwöhnung impliziert häufig eine Form von Druck. Es ist weniger der Druck, den eine autoritäre und kontrollierende Erziehung auslöst, sondern vielmehr der Druck, der durch narzisstische Überhöhung entsteht. Eltern die ihre Kinder verwöhnen, vermitteln diesen, dass sie sich nicht anzustrengen brauchen und dass ihnen der Erfolg zustehe, ja, dass er ganz von selbst eintrete. Später kämpfen Menschen mit solchen Beziehungserfahrungen häufig nicht nur mit mangelnder Frustrationstoleranz, sondern sie haben häufig Schwierigkeiten, die Realität und die eigenen Grenzen anzuerkennen. Sie kämpfen teils mit Größenphantasien, teils mit unbewussten Versagensängsten. Vermeiden und Aufschieben können für sie auch ein Vermeiden von vorweggenommenem Scheitern darstellen. Typischerweise wird so lange prokrastiniert, bis die Arbeit nicht mehr weiter aufgeschoben werden kann und in kürzester Zeit erledigt werden muss. Hintergrund davon ist, dass die selbst herbei geführte Verknappung der Zeit Grenzen schafft, womit die Größenphantasien aufrechterhalten werden können: „Ich hatte eben nicht mehr Zeit, sonst wäre etwas VIEL Besseres dabei herausgekommen.“
Die eigenen NEINs lieben lernen
Wer sich seinen NEINS zuwendet, der erfährt sicherlich eine Menge über sich selbst. Sei es nun der Mangel an Leichtem und Schönem im Leben, Schwierigkeiten, unangenehme Gefühle auszuhalten oder ganz andere Themen. Das können zum Beispiel ein Erleben von Überforderung durch die Aufgabe sein, ein schwelender Konflikt mit dem Chef, die Angst sich Hilfe zu holen, eine biographisch begründete Angst vor Erfolg oder eine berufliche Aufgabe gewählt zu haben, die einem nicht entspricht. Was es braucht, ist an dieser Stelle die Fähigkeit, Biographisches von Aktuellem zu trennen, Mut zur Wahrheit und Transparenz nach Innen und im Verlauf auch in der Kommunikation. Wer sein NEIN ernst nimmt, es mit Interesse untersucht, der kann nicht nur über sich etwas lernen, sondern findet auch einen Wegweiser zu einem ausbalancierteren Leben, ein passendes Berufsfeld und vielleicht ganz neue, noch nie gedachte Ideen. Im Coaching sind NEINs jedenfalls herzlich Willkommen, sie zeigen uns den Weg zu mehr beruflicher und persönlicher Zufriedenheit.
Dipl. Psych. Andrea Wurst, Coach und Autorin bei Dynamind.
Wenn Sie sich selbst auf die Spur ihrer Prokrastinationserfahrungen machen möchten empfehlen wie Ihnen ein Business Einzelcoaching.
Bei Interesse wenden Sie sich gerne an uns über unser Kontaktformular.