Corona Krise: Demokratie zwischen Versorgung und Autorität
Das bislang so wenig erforschte Covid-19 Virus und die neuen Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie bedeuten radikale Veränderungen für uns alle. Kontaktsperren, Home Office und Reiserestriktionen sind keine persönliche Entscheidung mehr, sondern, wie die Bundeskanzlerin Merkel auf der Pressekonferenz zur Coronakrise am 22.März betont, „Regeln,
keine Empfehlungen.“ Dazu kommen die Ängste der Menschen, sich zu infizieren oder vor einem Kollaps unseres Gesundheitssystems.
Das Wegfallen der Selbstverständlichkeiten
Die meisten von uns haben in ihrem Leben als Erwachsene das Gefühl von Ohnmacht wohl seltener erlebt. Umso stärker scheinen wir ihr aktuell ausgeliefert. Es ist die Ohnmacht gegenüber dem Virus und gegenüber den Veränderungen unseres Alltags, die die Pandemie für uns bedeuten. Es scheint unmöglich, die Situation wirklich gut einzuschätzen. Und wir sind Restriktionen ausgesetzt, die wir hier in Deutschland seit dem Ende des zweiten Weltkriegs so noch nie erlebt haben. Anders als in vielen anderen Bereichen der Welt sind wir hier in der Selbstverständlichkeit aufgewachsen, sozial und medizinisch weitestgehend abgesichert zu sein und unser Leben und das unserer Kinder größtenteils selbstbestimmt zu gestalten. Ohnmacht in einem solchen Ausmaß kann von den Menschen als traumatisch erlebt werden und wenige von uns verfügen über adäquate Bewältigungsstrategien. Fakt ist, wir wissen noch nicht, wie die Situation sich entwickelt, wie lange sie bestehen bleibt, wie viel Tote es geben wird, ob wir danach wieder in unser altes Leben zurück finden und was sich dann verändert haben wird. Aber deutlich wird, wie schwer es für die meisten Menschen ist, das Nicht-Wissen und die Ohnmacht als psychischen Zustand auszuhalten oder gar zu akzeptiere. Es kommt zu heftigem Agieren und zu Übersprungshandlungen unterschiedlichster Art. Die medialen Debatten überschlagen sich, Meinung prallt auf Meinung, wir finden Verschwörungstheorien, Verleugnungshaltungen, Weltuntergangsszenarien und sich widersprechende Schlagzeilen. Sie alle zeigen vor allem eins: Die Angst der Menschen und ihre Fassungslosigkeit.
Auf sich selbst zurückfallen in der Krise
Als Psychologin und Psychotherapeutin sehe ich viele Menschen und ihre Bewältigungsstrategien in der aktuellen Krise. Immer wieder wird deutlich, dass in Krisenzeiten die Menschen auf ihre tiefsten Ängste treffen. Oder anders ausgedrückt, das Erleben von Ohnmacht, Angst oder Isolation scheint uns in einer Weise in ein kindliches Erleben zurück zu werfen. Und wir finden meist die gleichen Bewältigungsstrategien wie als Kind, es scheint eine Art von Zugrückrutschen in frühe Strategien oder Fixierungen.
Der Wunsch nach Autorität – Versorgung inklusive
Ein Beispiel wäre der innere und tatsächliche Umgang mit den neuen Regeln und Ansagen der Bundesregierung zur Eindämmung des Virus. Wer medial hinhört, der bemerkt, dass es zunehmend eine Tendenz gibt unter den Deutschen, sich eine autoritäre Hand zu wünschen, die durchgreift und die mehr Verantwortung übernimmt. Es gibt sehnsüchtige Blicke auf den österreichischen Kanzler Kurz mit der Projektion, dass dieser mit väterlicher Strenge sein Land besser schütze als „Mama Merkel“ in ihrer eher abwartenden Art. Solche Sehnsüchte zeigen sich häufig bei Menschen, die sich insgeheim immer eine Form von Autorität gewünscht haben, denen die Last der Verantwortung, die sich aus demokratischen Ansätzen ergibt, vielleicht schon immer ein wenig zu schwer vorkam. Nun scheint die Chance gekommen, diesen Wunsch auszudrücken, ohne als Verräter der Demokratie dazustehen oder den Verdacht populistischer Gesinnung auf sich zu lenken.
Der Wunsch nach Beweisen
Ein solcher Wunsch nach Autorität kann sich aber auch im verschobenen Wunsch nach „endlich mal eindeutigen wissenschaftlichen Belegen“ zeigen. Wir wünschen uns Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen und quantitative Studien, eine eindeutige Studienlage. Aber auch in der Wissenschaft zeigen sich aktuell Überforderung und Hilflosigkeit. Auch die Medizin und unser Gesundheitssystem kommen aktuell an ihre Grenzen. Auch der Wunsch vieler Menschen, sich an renommierte Ärzt*innen zu orientieren, kann so verstanden werden. Wem der Podcast von Prof. Dr. Ch. Drosten von der Charité in Berlin ein wenig Sicherheit gegeben hat, der liest kurz darauf von den völlig entgegengesetzten Ansichten von Dr. W. Wodarg. Auch Studienlagen sind so komplex und in Folge nur vereinzelt und selektiv dargestellt, so dass sie sich nicht selten total widersprechen. Bleibt das Virus jetzt 72 Stunden auf einer Türklinke oder ist das nur noch eine Spur, die nicht mehr infektiös ist? Die Wahrheit ist wieder: die meisten von uns habe keine Ahnung. Es scheint sie einfach (noch) nicht zu geben, die Wahrheit.
Wohlstandsverleugnung
Eine ebenfalls früh gelernte Bewältigungsstrategie von Ohnmachtsgefühlen ist die Verleugnung. Und diese ist ein weites Feld – ich meine nicht nur die unbeschwert feiernden Abiturienten und Abiturientinnen. Da gibt es auch den Wohlstandtrotz, den der Journalist Jacobsen in der ZEIT beschrieben hat, das Gefühl von Unverwundbarkeit einer Generation, die Entbehrungen und Krisen nie erlebt hat. Unser medizinisches System hat Grenzen, aber wir scheinen unfähig, diese zu antizipieren oder zu realisieren. Eine Form der Verleugnung des Todes spielt da hinein und narzisstische Größenphantasien, die uns dabei unterstützen, uns selbst als unverletzlich zu erleben.
Verschwörungstheorien sind die radikalste innere Lösung
Verleugnung kann aber auch gravierender ausfallen und in diesem Sinne auch gefährlich werden. So entstehen Verschwörungstheorien, die von Kontrollstrategien der Regierung ausgehen, von einem rein wirtschaftlich geprägtem Interesse, das Virus in seiner Bedeutung aufzubauschen und von faschistoid getönten Wünschen der Mächtigen, die Verfassung auszusetzen. Auch in Phantasien wie diesen geht es um das Erleben und das Verarbeiten von Macht und der eigenen Ohnmacht, aber der Weg ist die Zuspitzung, die Aufteilung der Welt in Gut und Böse und die eigene Rebellion für das Gute. Gefährlich wird eine solche Art von Verleugnung vor allem aufgrund des massiven Aggressionspotentials der Betroffenen, die sich selbst als „Freiheitskämpfer“ erleben und in diesem Sinne das eigene Aggressionspotential wenig reflektieren. Und ich spreche an dieser Stelle nicht von einzelnen fanatischen Mitmenschen. Verschwörungstheorien und extreme Haltungen, die eine einfache Lösung für die Bedrohung finden gibt es über alle gesellschaftlichen Bildungsschichten.
Demokratie braucht Erwachsene
Wer sich medial und privat mit diesem Dschungel an Haltungen auseinandersetzt, der merkt, zu allen Ansichten finden sich Belege, Gleichgesinnte und Ärzt*innen die als Autoritäten anerkennt sind. Angesichts der deutschen Geschichte mit Autoritäten ist eine solche Diversität wichtig und Teil des demokratischen Grundverständnisses. Letztendlich kann jeder nur eines machen, er kann sich ein eigenes Bild zur aktuellen Lage machen, jeder von uns wird Entscheidungen treffen, auf seine Weise Verantwortung zu übernehmen. Wir können und wir müssen uns unsere eigenen Gedanken machen über restriktive Maßnahmen und über die Gefahr, die durch das Virus ausgeht.
Das Problem ist – in Zeiten der Angst und Ohnmacht sind die meisten Menschen, zumindest zu Teilen, in regressivem, das heißt kindlichem Erleben gefangen. Das zeigt sich an extremem Schwarz- Weiß Denken, an hyper-rigidem oder verleugnendem Umgang mit Regeln und in der Art, wie wir unsere Ängste und Einsamkeit handeln. Es zeigt sich auch in Momenten, in denen wir beginnen, Werte wie Solidarität und Humanität hinter unsere persönlichen Bedürfnisse zu stellen. Wir hamstern Klopapier (das symbolisch für die anale Thematik der Kontrolle steht und zeigt, wie sehr es in unseren Einkäufen darum geht, den Schein von Kontrolle zu erleben) und in Amerika werden Waffen gekauft. Das Paranoide, das immer in uns gesteckt hat, es bricht sich Bahn.
Demokratie hat uns schon immer einiges abverlangt, nämlich das Regulieren selbstbezogener Ängste: die Angst zu kurz zu kommen, die Angst von uns selbst abzulenken und andere in ihrer Not wahrzunehmen. Die Demokratie hat von uns verlangt, dass wir selbständig denken, dass wir Entscheidungen treffen und uns unsere eigene Meinung bilden. All das kostet innerpsychisch eine Menge Kraft und es erfordert eine stabiles innerpsychisches Abwehrsystem aggressiver, egoistischer und paranoider Impulse. In Zeiten von Corona scheint dieses Abwehrsystem mancherorts überfordert.
Erwachsene brauchen Solidarität
Aber andere, und das ist wirklich berührend zu sehen, schaffen es, die Angst und das Erleben von Ohnmacht besser in sich selbst zu halten. Sie schauen, wie Solidarität möglich ist mit Menschen, die alt sind, die alleine leben oder mit Menschen, die kein Zuhause haben. Die Einhaltung der Kontaktsperre ist wichtig, um den Virus einzudämmen. Aber es ist auch wichtig, gerade wenn der Virus uns zwei Jahre lang immer wieder beschäftigen sollte, dass wir gesellschaftlich nicht traumatisiert oder depressiv reagieren. Ich denke, dass in der gegenwärtigen Krise Werte wie Solidarität und Zusammenhalt für ein psychisches Überstehen der Situation zentral sind und dass wir ohne sie unsere Ohnmacht nicht ertragen. In Berlin wird dies aktuell in vielen kleinen und großen Momenten deutlich. Manche Menschen lächeln sich an, wenn sie in 1.5 Metern Abstand auf der Straße aneinander vorbeigehen, es werden Tüten für Obdachlose gepackt und an Zäune gehängt. Es gibt Solidaritätsaktionen auf Balkonen und manche kaufen Kinogutscheine für das kleine lokale Kino in ihrem Kiez. Aber es ist nicht sicher, ob es reicht. Ob es reicht gegen die Isolation der Alten, die Einsamkeit der Singles, die Überforderung der Eltern und die Ängste der Selbständigen. Wir wissen es nicht. Auch das wissen wir einfach noch nicht.
Andrea Wurst, Coach bei DynaMind