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Psychoanalytisches Business Coaching

Vorsicht Risiko!

„Numeracy“ und die Überwindung der Angst, Teil 2: Wie wir nahe und ferne Risiken miteinander verrechnen.

Wie kommuniziere ich Zahlen?

Wir begegnen im Umgang mit Zahlen und Risiken in der Corona-Krise Herausforderungen, die auch unter viel undramatischeren Umständen in jedem Business Coaching, in Berlin oder anderswo in der Welt, eine Rolle spielen könnte: Wie kommuniziere ich Zahlen? Wie verstehe ich sie selbst? Wie bleibe ich in meinen Rechnungen beweglich genug, um neue Informationen integrieren zu können? Und wie lassen sich durch geeignete Darstellungsformen Quellen für unbewusste und bewusste Ängste bei meinen Adressanten abbauen?

Gerade in der Impfdebatte der vergangenen Jahre, die maßgeblich um Masern- und Polio-Impfungen kreiste, kann man sich mit Problemen vertraut machen, auf die politische oder medizinische Entscheider*innen nun jeden Tag treffen. Der Angst, es zu unterlassen, durch eine vorauseilende Maßnahme, Schaden abzuwenden, steht die Angst gegenüber, durch eine Handlung, einen Schaden auslösen zu können. Je näher der jeweilige Schaden rückt, desto stärker werden Neigungen, Handlungen auszuweichen, die ihn provozieren könnten.

Aber zu diesem Bias, dieser mehr oder wenigen Verzerrung in unseren Entscheidungsprozessen, kommt ein zweiter Faktor hinzu: wie verstehen wir überhaupt die Zahlen und Wahrscheinlichkeiten in Hintergrund? Können wir aktuelle Risken auf ein absolutes Risiko, auf ein Grundrisiko beziehen?

Epidemien: Klassische Theorien und moderne Anwendungen

Die Art und Weise, wie Risiken kommuniziert werden, trägt wesentlich dazu bei, wie die zugrunde liegenden Fakten verarbeitet und daraus Entscheidungen abgeleitet werden, das ist eine Erkenntnis der modernen Entscheidungsforschung (Gigerenzer, Gaissmaier, Kurz-Milcke, Schwartz, & Woloshin, 2009). Dabei spielen basale Vermögen wie Numeracy eine Rolle (Dehaene, 1992; Dehaene, Bossini, & Giraux, 1993) – das ist die Fähigkeit numerische Information zu verstehen und zu verarbeiten –  aber auch statistische Grundkenntnisse oder die Frage der bestmöglichen (graphischen) Darstellung von Mengen und Teilmengen.

In ihren klassischen Studien zum Fortschreiten von Epidemien innerhalb von homogenen Populationen haben im Jahrzehnt nach der Spanischen Grippe-Epidemie Kermack und McKendrick (1927, 1932) die Idee dargestellt, dass sich für Populationen von infizierbaren Individuen im Allgemeinen eine Schwelle (bezogen auf ihre Dichte) finden lasse, unterhalb derer sich keine Epidemie entwickeln könne. Dieser Tage sind wir alle unfreiwillig in unserem Alltag zu Experten für diese Theorie, nein: zu Akteuren geworden. „Herden-Immunität“ ist ein Wort, das uns allen geläufig wurde.

Anheben der Schwelle zur „Herden-Immunität“

Kermack und McKendrick unterschieden zwei mögliche Alternativen, um die Anzahl der infektionsanfälligen Personen unter der Schwelle für eine Epidemie zu halten:

a) Impfen und b) ein Anheben der Schwelle für eine Ausbreitung der Erreger durch Isolation oder rasche Behandlungen, die in der Interaktion mit der Dichte der Population und den anderen Faktoren der Epidemie stehen (Haigh, 2012; Kermack & McKendrick, 1927). Der Blick in diese Studien offenbart aber auch einen der Fallstricke, die in der Kommunikation solcher Erkenntnisse lauern. Die mathematischen Methoden und komplexen Formel-Kaskaden hinter den Schwellenwertbestimmungen sind nur für mathematische Experten durchdringbar, auch wenn die daraus abgeleiteten Botschaften klar formuliert werden.

Daraus ergibt sich ein wichtiger Hinweis in politischen und organisatorischen Prozessen: Die Kommunikation und Rezeption von komplexen (nicht nur medizinischen) Daten, verlangt nach einer optimalen Darstellung, aber auch nach einem Minimum an Wissen über die statistischen Methoden, mit denen dieses Wissen generiert und dargestellt wird.

Wie man Risiken klarer kommunizieren kann

In einem Beitrag für die Zeitschrift Scientific American Mind haben Forscher rund um den Psychologen Gerd Gigerenzer schon vor zehn Jahren global dafür plädiert, eine Grundausbildung in Statistik im Curriculum für alle Schüler zu verankern. Gigerenzer führte am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin jahrzehntelang eine Forschungsgruppe für Risikokompetenz. Die Bedeutung von Statistik in unserem Alltagsleben sei so groß geworden, schrieben die Autorengruppe um Gigerenzer, dass ein Grundverständnis ihrer Methoden und Darstellungsweisen, die sogenannte „Statistical Literacy“ für ein verantwortliches Urteilen notwendig, aber allzu oft nicht gegeben sei. Daraus leiten sie eine Kritik an der undurchsichtigen Darstellungsweise von Zahlen ab:  „To avoid such misunderstandings in the first place, we argue that medical journals, the media and others should communicate risk in more easily understood forms.“ (Gigerenzer et al., 2009, S.45).

Die Autoren machten in ihrem Artikel Defizite im Verständnis von absoluten und relativen Risiken aus, die die Risikobewertung von Patienten erschweren. Ein absolutes Risiko (auch: „Basisrisiko“) wäre etwa die Wahrscheinlichkeit nach einer Corona-Infektion mit einer Covid-Lungenerkrankung in einer Intensivstation zu landen. Ein relatives Risiko wäre etwa die Wahrscheinlichkeit als Angehörige*r einer bestimmten Altersgruppe nach einer Corona-Infektion Hilfe auf einer Intensivstation zu brauchen

Solche Fragen werden dort besonders wichtig, wo es um die Darstellung des Ansteigens oder der Reduktion von Risiken geht. Wenn hier die natürliche Grundrate nicht mitberücksichtigt wird (was aufgrund der Datenlage generell ein Problem für die allgemeine Risikoeinschätzung und das Ressourcenmanagement auch in der Corona-Krise ist), können Aussagen leicht irreführend werden. Und: Das Darstellungsformat selbst sorgt im Zusammenwirken mit dem Kontext für Biases in der Bewertung (Covey, 2007).

Mit Bäumen rechnen. Aber richtig.

Ein möglicher Weg, zusammenhängende Risiken darzustellen, die sich aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen und Untergruppen ergeben, sind Wahrscheinlichkeitsbäume, die Rückschlüsse auf Kombinationen und sogenannte Inverse Probabilities zulassen (Bayes & Price, 1763; vgl. Haigh, 2012, S. 33). Die Baumdiagramme sind eine mathematische Entdeckung des siebzehnten Jahrhunderts, die wir dem multitalentierten Physiker, Mathematiker und Erfinder Christiaan Huygens (1629-1695) verdanken. Sie eignen sich auch heute noch bestens für die Darstellung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen (Büchter & Henn, 2007, S. 209ff.). Tatsächlich leiten die Zahlen (im Idealfall mit jeder neuen Information aktualisiert und korrigiert), die hier am Ende herauskommen, aktuell nationale und internationale Corona-Politik.

Mit diesen Bäumen zu rechnen ist eine Sache, eine andere diese Rechnungen gut verständlich darzustellen –  insbesondere bei der Verarbeitung von relativen Häufigkeiten.

Das Beispiel von Gigerenzers Autorengruppe ist an die HIV-Infektion angelehnt: Ausgangspunkt ist eine schichte Frage: Gehen  wir davon aus, dass einer von 10.000 Menschen in Deutschland mit HIV infiziert ist, und ein Test, den man machen kann, mit 99,99-prozentiger Wahrscheinlichkeit darüber auch Auskunft gäbe. Die einfache Frage von Gigerenzer et al. (2009) ist diese: Wenn man eine positive Testdiagnose bekäme, wie wahrscheinlich wäre es, dass man tatsächlich infiziert ist?

Halten Sie eine Augenblick inne, und rechnen (oder schätzen) Sie selbst…

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit tatsächlich nach diesem Testergebnis infiziert zu sein? 99,99 Prozent? So hoch, wie es die Testgenauigkeit angibt?

Ein doppeltes Problem

Wer hier beginnt, mit den Prozentzahlen zu rechnen (99,99 % für die Genauigkeit und 0,01 % für die Grundrate) hat ein Vermittlungsproblem, und kommt wahrscheinlich ohne Taschenrechner nicht leicht ans Ziel. Der Effekt wäre wohl eine massive Überschätzung des Riskos.

Der Vorschlag von Gigerenzer et al. (2009) ist, mit der Darstellung von natürlichen Grundraten in der Population zu arbeiten, vorzugweise in absoluten Zahlen (die etwa mit der Sensitivität und den Falsch-Positiv-Ergebnissen von Tests in Beziehung gesetzt werden müssen). Vergleichen Sie noch einmal die beiden Varianten in der untenstehende Illustration aus dem zitierten Aufsatz. Hier werden für das Rechenbeispiel einmal die Darstellungen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten (blau) – und einmal die mit natürlichen Frequenzen mit ganzzahligen Faktoren (gelb) gegenüber gestellt. Der Unterschied liegt darin, dass hier einmal Prozentzahlen als Zahlenreihen mit Kommata, oder leichter nachvollziehbare ganze Zahlen verwendet werden.

Das Beispiel zeigt also zwei Möglichkeiten, dieselbe Antwort auf die ursprüngliche Frage zu geben (mit welcher Wahrscheinlichkeit man hier, bei einem positiven Testergebnis, tatsächlich infiziert wäre). Die linke Antwort lässt sich schwer verstehen, die rechte sehr viel leichter (Abb. aus: Gigerenzer et al. (2009, S. 49)). Die Wahrscheinlichkeit unter den oben genannten Ausgangsbedingungen nach einer Testung mit dem zu 99,99 Prozent akkuraten Test tatsächlich infiziert zu sein ist nicht 99,99 Prozent, sondern tatsächlich 1:2, oder: 50 Prozent. (Der Test wird für den Fall, dass man infiziert ist, zu 99,99 Prozent anschlagen. Er produziert bei der gegebenen Grundrate der Infektion aber auf 10.000 Testungen auch einmal eine Falschmeldung.)

Unbewusste Ängste: Wenn die Impfung kommt

Wenn eine wirksame Corona-Impfung kommen sollte, werden sich für die Berliner Republik sofort neue Fragen von gelungener, transparenter Leadership und der Kommunikation von Risiken stellen. Wer hier informiert agieren und vorhandene Ängste containen kann, wird den größten Erfolg haben. Politik und Verwaltung werden gegenüber der Bevölkerung selbst in einem medialen Meta-Coaching von Berlin bis München in die Rolle von Vermittlern schlüpfen müssen, die neue Ängste verstehen und passend beantworten können.

Denn die Forschung zu vergangenen Impfdebatten zeigt: Das mehr oder weniger ferne Risiko einer Erkrankung wird stets mit den Risiken verglichen, die für Individuen schon im Moment der Impfung auftreten. Die Bewertung dieser Risiken und die Furcht für einen Schaden (für Eltern etwa: am eigenen Kind) direkt verantwortlich zu werden, der durch ein Unterlassen der Handlung, also Nicht-Impfung, vermeidbar gewesen wäre, versucht die Forschung zum sogenannten „Unterlassungseffekt“, dem sogenannten Omission Bias (Baron & Ritov, 2004) zu quantifizieren.

Konkrete Gefahr

Unsere Gegenwart hält dafür auf der Ebene der Politik und in unseren eigenen, alltäglichen Entscheidungen reiches Anschauungsmaterial bereit. Die Befürchtung, durch Unterlassung einer Handlung, anderen Schaden zuzufügen, geht gerade in die Richtung der Aktivität, weil eine konkrete Gefahr gebannt werden soll. Aber das kann sich auch ändern.

Denn kaum rückt diese konkrete Gefahr ein wenig weiter weg, wird sich dieser Bias möglicherweise wieder umkehren. Ein Beispiel dafür wären Eltern in Risikogebieten, die zögern, ihr Kind etwa gegen Polio impfen zu lassen. Sie sehen das aktuelle Risiko der Impfung im Vordergrund.

Wie kann man dieses Verhalten überwinden? Verpflichtende Massenimpfungen würden das Selbstbestimmungsrecht berühren, frei über medizinische Eingriffe am eigenen Körper entscheiden zu dürfen. Entsprechend heftig sind alle Diskussionen, die dieses Thema einschließen (Dubov & Phung, 2015).

Statt Impfungen zum Zwang zu machen, antwortet Politik mehr und mehr mit Formen von Anreizen oder sanften, positiv verführenden Anstößen (Nudging) auf fehlenden Impfwillen. Dubov und Phung (2015) empfehlen etwa eine Choice-Architecture, die unter Aufrechterhaltung aller Wahlmöglichkeiten verantwortliche Personen dennoch in erwünschte Richtungen lenkt.

Die auf den ersten Blick freundlichste, aber offenbar auch vielversprechendste Strategie ist der von Dubov und Phung (2015) dargestellte Social Norm Approach, der mit sozialem Druck aus der Bezugsgruppe der betreffenden Personen rechnet: die Maßnahmen schließen hier die positive Identifizierung  geimpfter Personen ebenso ein, wie Druck auf zögerliche Institutionen (die sich in sozialen Druck innerhalb der Institutionen übersetzen soll) bis hin zum Message framing. Dabei zeigt sich, dass Botschaften, die mögliche Verluste und Leid der dem Individuum wichtigen Personen in ihrer Botschaft stark machen, den größten Erfolg haben (Abhyankar, O’Connor, & Lawton, 2008).

Unbewusstes bewusst machen

Erfolgreiche Strategien in diesem Feld achten also auf inhaltliche Dynamiken ebenso wie auf die Formen der Kommunikation. Sie berücksichtigen, dass man sich auch gegen unbewusste Biases und irreleitende Heuristiken durch bewusste Auseinandersetzung ein Stück weit immunisieren kann.
Im übertragenen Sinn gilt hier der alte Grundsatz der Psychoanalyse: Wer sich Unbewusstes bewusst macht, der vergrößert seine Spielräume. So lassen sich gegebenfalls auch die Ängste in Frage stellen, die unser Handeln ohne eine solche Vergegenwärtigung sonst leiten würden.

Das gilt bei ganz allgemeinen Themen im Business Coaching, aber natürlich ganz besonders auch hier, wo es um kollektive Fragen und unser gemeinsames Interesse geht …

Robert Weixlbaumer, Psychologe M.Sc., Coach bei dynaMIND

 

Quellen: 

Abhyankar, P., O’Connor, D. B., & Lawton, R. (2008). The role of message framing in promoting MMR vaccination: evidence of a loss-frame advantage. Psychol Health Med, 13(1), 1-16.

Baron, J., & Ritov, I. (2004). Omission bias, individual differences, and normality. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 94(2), 74-85.

Bayes, T., & Price, R. (1763). An Essay towards solving a problem in the doctrine of chances. By the late Rev. Mr. Bayes, FRS communicated by Mr. Price, in a letter to John Canton, AMFRS. Philosophical Transactions (1683-1775), 370-418.

Büchter, A., & Henn, H. W. (2007). Elementare Stochastik: Eine Einführung in die Mathematik der Daten und des Zufalls: Springer Berlin Heidelberg.

Covey, J. (2007). A meta-analysis of the effects of presenting treatment benefits in different formats. Medical Decision Making, 27(5), 638-654.

Dehaene, S. (1992). Varieties of numerical abilities. Cognition, 44(1), 1-42.

Dehaene, S., Bossini, S., & Giraux, P. (1993). The mental representation of parity and number magnitude. Journal of Experimental Psychology: General, 122(3), 371-396.

Dubov, A., & Phung, C. (2015). Nudges or mandates? The ethics of mandatory flu vaccination. Vaccine, 33(22), 2530-2535.

Gigerenzer, G., Gaissmaier, W., Kurz-Milcke, E., Schwartz, L. M., & Woloshin, S. (2009). Knowing your chances. Scientific American Mind, 20(2), 44-51.

Haigh, J. (2012). Probability: a very short introduction. Oxford: Oxford University Press.

Kermack, W. O., & McKendrick, A. G. (1927). A contribution to the mathematical theory of epidemics. Proceedings of the Royal Society of London A: Mathematical, Physical and Engineering Sciences, 115(772), 700-721.

Kermack, W. O., & McKendrick, A. G. (1932). Contributions to the Mathematical Theory of Epidemics. II. The Problem of Endemicity. Proceedings of the Royal Society of London. Series A, Containing Papers of a Mathematical and Physical Character, 138(834), 55-83.