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Psychoanalytisches Business Coaching

Vorsicht Zahlen!

„Numeracy“ und die Überwindung der Angst, Teil 1: Wie die Psychologie dem Unbewussten beim Rechnen – und Verrechnen – zusieht.

Zahlen machen Angst

Wenn wir Angst bekommen, beginnen wir zu rechnen. Kann man während einer Pandemie noch mit der S-Bahn fahren? Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Erreger auf der Türklinke klebt? Dürfen die Mitarbeiter noch ins Büro? Um wie viel gefährlicher ist das Leben mit Corona, als das Leben mit anderen Viren? Wie sehr beeinflusst mein Verhalten das Schicksal anderer? Werden die Intensivbetten reichen? Exponentiell gesteigerte absolute Zahlen von Infektionen, und Zahlenverhältnisse, die Unheil künden – sie machen Angst.

Kühler Verstand ist in den Rechenzentren der Epidemiolog*innen ein essentielles Vermögen, aber mit Abstand betrachtet, können Intellektualisieren und Rationalisierung auch kollektive Abwehrformen mit paradoxem Effekt sein. Das Rechnen und die Zahlenwerke, mit denen wir uns aktuell umgeben, versprechen inmitten der Ungewissheit auch Beruhigung, Kontrolle. Eine zwiespältige Antwort, wenn wir wie gebannt immer aufs Neue auf die Zahlenkurven blicken. Das Rechnen und Abwägen sind Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um uns zu regulieren, aber sie produzieren nicht nur bei jenen, die an den aktuellen Nachrichtenkanälen hängen, auch neue Aufregungen. Dahinter bleibt etwas Größeres liegen: Sterblichkeit. Einsamkeit. Kontrollverlust. Sie machen existenzielle Angst, nicht nur in einer Pandemie.

Auf diese Ängste weiter zu achten, entspräche einem tiefenpsychologischer Blick auf das Rechnen. Die Psychoanalyse beschäftigt sich in ihren vielen Praxisformen (u.a. auch im analytischen Business Coaching) intensiv mit dem dynamischen Unbewussten, d.h. mit dem konfliktreichen Triebgeschehen und mit den zugehörigen Abwehrformen. Mit diesen Abwehrformen können Menschen als Individuen oder als Akteure in Gruppenprozessen unangenehme, beschämende oder ängstigende Gefühle verdrängen, aber auch sehr produktiv verwandeln. Diese produktive Seite ist das, was wir im weiteren Sinn Kultur und Gesellschaft nennen (Freud, 1936/1994).

Der kühle Kopf

Nun lässt sich das Unbewusste aber nicht nur in der Abwehr, sondern auch in anderen Formen unseres Erlebens, Denkens und Verhaltens entdecken, für die sich die allgemeine Psychologie interessiert. Die Erforschung unseres Vermögens zu rechnen, Zahlen und Zahlenverhältnisse zu bewerten, ist unter dem Übertitel „Numerical Cognition“ ein spannendes Forschungsgebiet der Allgemeinen Psychologie und der Wirtschaftspsychologie. Daraus kommt eine Warnung: Gerade, wenn wir rationalisieren, auf Zahlen blicken, verrechnen wir uns oft.

Diese Warnung vor unserem Umgang mit Zahlen wurde zuallererst in der ökonomischen Teildisziplin der Behavioral Economics populär. Sie sorgte für eine Revolution. In den Behavioral Economics wird untersucht, wie Individuen ökonomische Entscheidungen unter unsicheren Bedingungen treffen. In der Epoche nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Wirtschaftswissenschaften in der von dem genialen Mathematiker John von Neumann geprägten „Spieltheorie“ (von Neumann & Morgenstern, 1945) die Idee vertreten, dass die Akteure im Markt rationale Entscheidungen treffen würden.

Diese These stellten im späten 20. Jahrhundert u.a. der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Forschungspartner Amos Tversky mit einfachen und zugleich sehr aussagekräftigen Experimenten in Frage. Ihre Forschungen zeigen, dass wir stille (und oft ziemlich unvernünftige) Heuristiken mitbringen, die wir in komplexen Entscheidungssituationen anwenden (Kahneman, 2011; Kahneman & Tversky, 1979).

Entscheiden unter Unsicherheit

Das zentrale Dogma der klassischen, ökonomischen Entscheidungstheorie (i.e.: dass das vernünftige, rationale Handeln dasjenige sei, welches den mittleren Nutzen der Konsequenzen der Handlung maximiere (Haigh, 2012)), gilt nur mit großen Einschränkungen. Ebenso wie die Idee, dass Individuen rationale Statistiker sind, die stets optimale Entscheidungen treffen (Fischhoff, 1982). So hängt etwa die Frage, wie wir ein Risiko bzw. den Wert eines damit verbundenen Einsatzes wahrnehmen, stark damit zusammen, ob wir dabei an einen Verlust, oder an einen Gewinn denken, auch wenn die objektive Summe (etwa 1000 Euro) gleich ist. Wir werden zögerlicher, wenn es um einen möglichen Verlust geht, risikofreudiger, wenn es um einen Gewinn geht.

Nicht nur Führungskräfte im Business Coaching, die von Krisensituationen berichten, in denen sie passende Entscheiden treffen sollen, müssen mit diesen irrationalen Mächten rechnen. Wir alle sind tagtäglich bei der Abwägung von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Risiken von unseren ganz individuellen, unbewussten Ängsten und Persönlichkeitsmustern geprägt – aber auch von ganz grundsätzlichen Rechen-Schwächen, die wir mit allen anderen Menschen teilen. Doppelt schwer in der aktuellen Krise, damit umzugehen. Und dafür auch das richtige Timing zu finden.

Gelassenheit, falsch oder richtig

Noch Anfang Februar 2020 sprach sich Lynn Bufka, die leitende Direktorin für Anwendungen, Forschung und Politik in der Amerikanischen Psychologen Vereinigung (APA), angesichts der Corona-Epidemie für Gelassenheit aus (Bernstein, 2020). Das Problem in den USA schien zu diesem Zeitpunkt vor allem die saisonale Grippe zu sein, die dort bis Anfang Februar 2020 bereits 25.000 Menschen getötet hatte. Das ist eine Zahl, die Anlass zur Sorge gibt, die mit persönlichem Leid der Opfer und ihrer Angehörigen und Freunde verbunden ist. Die vergangenen Grippewellen forderten auch in Deutschland 2017/18 und 2018/19 mehr als 20.000 Opfer (Buda et al., 2018; Buda et al., 2019). Das sind dramatische Zahlen. Doch ist uns die Grippe vertraut, man kennt ihre Letalität (vgl. Buda et al. (2019)), man weiß vor allem, wann sie sich abschwächt. Unser System ist darauf eingestellt, es kann die Notfälle versorgen.

Weil aber das COVID-19 (Coronavirus SARS-CoV-2)-Virus neu ist, gibt es diese Sicherheit nicht von Anfang an. „Anything that we don’t feel we have sufficient information about feels like a threat,” sagte Bufka im Februar. “The flu doesn’t feel novel. Most people’s experience with the flu is they’ve had it, they’ve recovered, it’s not a big deal — despite the fact that thousands of people die every year.” Bufka, die u.a. auch eine Spezialistin für das Thema Angst(störungen) ist, berührt mit ihrem Hinweis einen sensiblen Punkt, aber wie es scheint, hatte auch sie sich bei den Zahlen und Prognosen, die sie ihrem Statement zugrunde gelegt hatte, geirrt.

Ein Risiko kann man nur richtig einschätzen, wenn man die Grundrate kennt, und sie in eine richtige Beziehung zu anderen Größen setzten kann. Weil es diese Sicherheit gegenwärtig nicht gibt, ist ein ständiges Update von Information, und die transparente, klare Kommunikation dieser Information notwendig. Aber nur wer diese Informationen passend verknüpfen kann, bekommt wieder ein Stück Kontrolle in der Ungewissheit zurück. Die Psychologie und die Mathematik helfen beide dabei.

Robert Weixlbaumer, Psychologe M.Sc., Coach bei dynaMIND

 

Quellen:

Bernstein, L. (2020, Feb. 1). „Get a grippe, America. The flu is a much bigger threat than coronavirus, for now“. Washington Post.

Buda, S., Prahm, K., Dürrwald, R., Biere, B., Schilling, J., Buchholz, U., & Haas, W. (2018). Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2017/18: Robert Koch-Institut.

Buda, S., Streib, V., Preuß, U., Dürrwald, R., Biere, B., Schilling, J., . . . Haas, W. (2019). Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2018/19: Robert Koch-Institut.

Fischhoff, B. (1982). Debiasing. In D. Kahneman, P. Slovic & A. Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty: Heuristics and biases (S. 423-444). Cambridge: Cambridge University Press.

Freud, A. (1936/1994). Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag.

Haigh, J. (2012). Probability: a very short introduction. Oxford: Oxford University Press.

Kahneman, D. (2011). Thinking, fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Kahneman, D., & Tversky, A. (1979). Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Econometrica, 47(2), 263-291.

von Neumann, J., & Morgenstern, O. (1945). Theory of games and economic behavior. Bull. Amer. Math. Soc, 51(7), 498-504.