Working-Mom. Zwischen Wäsche, Selbstregulation und digitalem Engagement.
Beruf, Kinder und Pandemie: Wenn Vereinbarkeit vor der Pandemie eine Herausforderung war, spätestens jetzt ist sie eine Unmöglichkeit geworden. Das Tagesprotokoll einer berufstätigen Mutter.
7:40 Mein Wecker hat geklingelt und meine Jogging Verabredung wartet. War ich verrückt, um die Uhrzeit eine Lauf-Verabredung zu machen? Aber als ich draußen bin, da fühlt es sich ganz gut an, es wird hell und es ist noch still draußen.
8:30 Ich dusche, wecke mein Kind und mache Frühstück. Wir beeilen uns und schon klingelt es. Zwei Kassenkameraden meines Kindes stürmen die Wohnung mit ihrer losen Zettelsammlung, den Blockflöten und den Frühstücksresten im Gesicht. Ich atme nochmal tief durch.
9:00 Während die drei Kinder in der Zoom-Konferenz mit ihrer Klasse maximal unkonzentriert aber erstaunlich gut gelaunt Verben konjugieren, freue ich mich über 40 Minuten und schaffe tatsächlich einen Video-Call mit der Seo-Agentur meines Unternehmens und ein kurzes Telefonat.
10:30 Homeschooling ist angesagt: Nach der schriftlichen Addition üben drei 8Jährige das tiefe C auf der Blockflöte. Es klingt grauenhaft und auf keinen Fall tief. Einen Moment lang bin ich voll Ehrfurcht für ihre Lehrerin, die sonst ganz entspannt mit 27 Kindern flötet.
12:30 Ich koche Nudeln mit Pesto, was sonst. Die Küche sieht chaotisch aus. Ich räume auf.
13:15 Endlich am Rechner sortiere ich meine Mails während die Kinder in der Wohnung ein Spiel spielen, das mit schnellem Rennen, lautem Kreischen und knallenden Türen zu tun hat. Meine ToDo-Liste sitzt mir im Nacken.
13:30 Ich überlebe eine längere Diskussion mit drei Jungs, die lieber zocken wollen als raus zu gehen. Verständlich, aber mein Nervensystem ist am Rand. Ich rauche heimlich auf dem Balkon, was aber leider auch nicht hilft, mir wird ein bisschen übel und die Kinder sind immer noch da.
14:00 Ich denke über das Thema Führung und natürliche Autorität nach. Aber eher theoretisch. In meinen nostalgischen Phantasien war ich als Kind den ganzen Nachmittag mit meinen Freundinnen im Dorf unterwegs. Wie meine Mutter das wohl geschafft hat?
14:10 Alle Schuhe, Jacken, Mützen und Handschuhe sind verteilt. Alle Kinder sind weg. Ich atme durch. Wie war das mit dem Artikel, den ich schreiben wollte? Ich beschließe, über die Doppelbelastung von Eltern in der Corona Krise zu schreiben. Zu mehr reicht mein kreativer Output heute nicht mehr. Und falls es gleich schon wieder klingelt, dann tu ich so, als wäre ich nicht zu Hause.
14:15 Mir fällt mir auf, wie wenig mein Denken funktioniert, wenn ich unter Druck stehe. Psycho-physiologisch ist sicher das kein Wunder. Irgendwie diffus erinnere ich mich, dass die Polyvagaltheorie hier passen könnte. Kurz recherchiert erklärt mir der Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik Dr. Porges, dass unter Stress das sympathische Nervensystem aktiviert ist und damit auch der Adrenalin und Cortisolspiegel. Ein aktivierter Sympatikus erhöht meine Leistungsbereitschaft und hilft mir wahrscheinlich dabei, sehr schnell und sehr effektiv hinter Kindern herzuräumen oder die Flucht auf den Balkon anzutreten. Im Gehirn erzeugt er aber eher so etwas wie ein Knäuel, man verliert ich den Überblick und entwickelt ungesteuerte, wenig zielgerichtete Überaktivität. Denken ist da tatsächlich nur begrenzt möglich.Genau so fühlt es sich an. Arbeiten unter Corona-Bedingungen – reizüberflutet und ein bisschen ungesteuert.
14:30 Dem muss abgeholfen werden. Ich schaue ein kurzes Video von Dami Charf. Die bekannte Traumatherapeutin erklärt mir in ihrer ruhigen und freundlichen Art, dass Selbstregulation das A und O ist, wenn man unter Druck steht. Für eine völlig überdrehte Mutter im Homeschoolingworkingwahn wie mich sicher keine schlechte Idee. Über den Atem soll es möglich sein, die hohe Reizüberflutung und Stresssaktivierung zu regulieren. Ich lasse also meinen Blick schweifen und atme ganz ruhig.
14:40 Hätte ich nicht tun sollen, denn mein schweifender Blick fällt auf die Wäsche, die ich vergessen hatte aufzuhängen, auf meine erschreckend zugemüllte Wohnung und Mist, auch auf meine To To Liste. Ich beschließe lieber die Augen zu schließen und weiter zu atmen. Da kommt mir zwar mein Tinnitus irgendwie lauter vor und mir fällt auf, wie kalt meine Füße sind, aber ich tauche doch ein bisschen mehr ab.
14:55 Es klingelt. In meiner seelischen Weite beschließe ich, die Kinder jetzt einfach im Kinderzimmer wüten zu lassen und mich der Facebook-Gruppe #Eltern in der Krise anzuschließen. Die zählte schon kurz nach ihrer Gründung schon an die 9000 Mitglieder, heute sind es fast 15.000. Tja, ich bin wohl nicht ganz alleine. Irgendwie tut das gut.
15:15 Ich bin bei Facebook hängen geblieben und stoße auf einen Artikel aus dem Süddeutschen Magazin von Theresa Bücker, die über Die seelischen Folgen der Corona-Pandemie für Familien schreibt. Sie jedenfalls meint, es reiche nicht, sich ab und zu auf den Fußboden zu legen und ganz parasymapthisch der Ohnmacht nachzugehen. Ihr Artikel berührt mich, als sie deutlich macht, wie belastend es ist, neben der Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung auch die sich ständig ändernden Regeln nachzuvollziehen und in den Alltag einzubauen und dass sie sich andere Werte und eine andere Kultur wünschen würde für sich und ihre Kinder.„Ich würde mir immer wieder Kinder aussuchen, viele davon, aber nicht diese Kultur mit ihrem Erwerbsarbeitsfetisch und den platten Vorstellungen von Leistung und davon, wer Respekt verdient hat. Wer denkt sich denn so etwas aus?“
Hm… ich fühle mich ertappt bei meinem Versuch, mein aufgebrachtes Nervensystem zu beruhigen – habe ich dir ganze Situation zu unpolitisch gedacht? Ist es vielleicht gar nicht möglich, entspannt durch diese Zeit zu kommen? Ist es Zeit für uns Eltern, zu streiken?
15:30 Engagement 2021 ist digital. Also google ich #proparentsinitiative und #Frauen in der Corona Krise und fühle mich (und Theresa Bückner) durch die all die Zitate gesehen und bestätigt. Männer wie Frauen leiden unter Krisen wie der Corona-Pandemie. Aber die ökonomischen und sozialen Folgen treffen Frauen fast immer härter. Kristin Joachim aus dem ARD Hauptstadtstudio meint: Viel „home“ und wenig „office“.
Von „Backslash“ ist die Rede, oder von „Rollback“. Begriffe, die einem seit dem Lockdown in der Corona-Krise häufiger in Artikeln oder sozialen Netzwerken begegnen. Sie beschreiben ein Phänomen, für das Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), das Wort „Retraditionalisierung“ verwendet: die Rückkehr zu alten Rollenmustern in Familien. Der Mann geht arbeiten oder zieht sich ins Homeoffice zurück, die Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt und ist damit urplötzlich zurück an den Herd katapultiert. Ungefragt, ganz selbstverständlich. Und die, die versuchen Homeoffice mit Kindern zu machen, machen vor allem „home“ und wenig „office“.
Viel Home und wenig Office. Das kann ich nachvollziehen. 20 Prozent der Frauen haben jetzt Corona-bedingt die Arbeitszeit reduziert, so eine Studie des WZB. Ich überlege, ob das für mich auch gut wäre und ob recherchieren eigentlich schon unter politisches Engangement fällt, bin aber unentschlossen.
15:45 Ich lege den Artikel beiseite. Es ist einfach zu laut hier für mehr politischen Einsatz. Ich hänge mal die Wäsche ab und nehme mir vor, heute Abend weiter zu arbeiten, wenn mein Kind schläft. So gegen 22:00. Vorher habe ich aber nochmal gekocht, aufgeräumt, vorgelesen und die Sachen für den nächsten Tag vorbereitet. Dann aber ganz sicher.