Zwischen einer gesunden Portion Selbstüberschätzung und Narzissmus
Wir alle kennen sie. Ob in Politik oder Wirtschaft, ob bei der Arbeit oder im privaten Umfeld. Überall begegnen uns Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit. Zu den bekannten Beispielen gehören der Politiker Silvio Berlusconi, der Schriftsteller Thomas Mann, der Fußballspieler Christiano Ronaldo oder auch die Designerin Coco Chanel. Aber wie kommt es zur Entstehung einer narzisstischen Persönlichkeit?
Die Psychoanalyse des Narzissmus
Nach der Psychoanalytikerin Alice Miller, die sich in ihrem Werk „Das Drama des begabten Kindes“ (1983) eingängig mit Narzissmus beschäftigt hat, ist die Ursache der narzisstischen Persönlichkeit in der „Anpassung des Säuglings“ an seine Umwelt zu finden. Die Bezugsperson des Kindes ist nach Miller „selber narzisstisch bedürftig“ und „auf ein bestimmtes, für sie notwendiges Echo des Kindes angewiesen“. Das Kind wird also für die narzisstische Stabilisierung der Bezugsperson genutzt. Durch ihre eigene Bedürftigkeit kann die Bezugsperson nicht auf die narzisstischen Bedürfnisse des Kindes nach Spiegelung, Verständnis oder Teilnahme eingehen. Das Kind, das zum Erleben von Gefühlen ein annehmendes Gegenüber braucht, entwickelt in der Folge einen Mechanismus, um mit diesen Umständen umzugehen – das bewusste Erleben eigener Gefühle wird unzugänglich gemacht. Diese Anpassungsleistung bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen: Narzissten erleben häufig die eigenen Gefühle, wie z.B. Wut, Angst oder Neid, nicht bewusst. Daher fällt es ihnen auch schwer, sich „auf eigene Gefühle (zu) verlassen“. Sie haben Schwierigkeiten die „eigenen Bedürfnisse zu kennen“ und sind sich im Extremfall „im höchsten Maße entfremdet“. Die betroffene Person ist insofern auf ihr soziales Umfeld angewiesen, als dass dieses ihr als Spiegel für die eigene Wertigkeit und Größe dient. Das Gegenüber soll sich ihr zuwenden, sie bewundern, sie spiegeln, sie anerkennen und damit die frühen narzisstischen Bedürfnisse erfüllen.
Nur am Rande angemerkt: Neben der Individualperspektive haben Wissenschaftler der Charité – Universitätsmedizin Berlin den Einfluss der gesellschaftlichen Orientierung auf die Ausprägung von Narzissmus untersucht. Sie konnten zeigen, dass Menschen, die in den westlichen, individualistisch-kapitalistisch geprägten Bundesländern aufwuchsen, höhere Narzissmus-Werte aufweisen als Menschen, die in der ehemaligen DDR und somit in einer sozialistisch-kollektivistisch geprägten Gesellschaft groß geworden sind. Klicken Sie hier um mehr zu erfahren.
Gesunder vs. pathologischer Narzissmus
Jeder Mensch hat narzisstische Anteile. Diese verhelfen uns, dass wir uns nicht permanent minderwertig und unterlegen fühlen. Auch führen sie dazu, dass wir enorme Kräfte mobilisieren können, um zu zeigen, dass wir mithalten können, Anerkennung und manchmal vielleicht auch Bewunderung verdient haben. Ohne diese Anteile würden wir uns für unsere Projekte, die uns besonders am Herzen liegen, vielleicht nicht derartig engagieren. Vielleicht wären wir auch nicht so innovativ und würden uns vielleicht auch nicht trauen, unsere Ideen vor der ganzen Abteilung vorzutragen. In diesen Momenten braucht es eine gesunde Portion Selbst(über)schätzung und die in Aussicht gestellte Anerkennung der Vorgesetzten und KollegInnen.
Auch wenn die Grenze vom gesunden zum pathologischen Narzissmus fließend ist, lassen sich doch einige markante Merkmale aufzeigen. Ein pathologischer Narzisst fühlt sich im Gegensatz zum gesunden Narzissten sehr leicht gekränkt und tendiert dazu andere Menschen und deren Leistungen stark abzuwerten. Zudem hat die betroffene Person einen ausgeprägten Autoritäts- und Leistungsanspruch, einen Hang zur Selbstdarstellung und tendiert im Extremfall zu ausbeuterischem und manipulativem Verhalten. Auch wenn der pathologische Narzisst möglicherweise lange oder gar ein Leben lang ohne Leidensdruck bleiben mag, leidet das Umfeld mitunter erheblich unter dem Verhalten der narzisstischen Person leiden.
Narzisstische Persönlichkeiten als Vorgesetzte und KollegInnen
Produktive (gesunde) narzisstische Anteile können also sehr förderlich für das Arbeitsumfeld sein, da diese Menschen häufig sehr begeisterungsfähig und handlungsorientiert sind und sich gut durchsetzen können. Dies kann auch einen positiven Effekt auf ein Team haben, das sich durch die Visionen der narzisstischen Person inspiriert und motiviert fühlt. Bei extremen narzisstischen Ausprägungen kann dies jedoch zum Problem werden. Insbesondere wenn sich das erhöhte Anspruchsdenken und mangelnde Empathie der Narzissten in antisozialen und destruktiven Verhaltensweisen gegenüber KollegInnen und MitarbeiterInnen niederschlagen. Für viele narzisstische Persönlichkeiten dient die Arbeit der Stabilisierung des Selbstwertgefühls, da sie hier viel Anerkennung und Bewunderung bekommen können. Insbesondere bei narzisstischen Führungskräften wird die Machtposition häufig dafür genutzt, die Bestätigung der MitarbeiterInnen zu bekommen und damit eigene Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Dabei fällt es den Narzissten schwer sach- und lösungsorientiert zu denken und zu arbeiten. Immer wieder gerät das Beziehungsgeschehen in ihr Augenmerk: Kriege ich von meinen KollegInnen oder MitarbeiterInnen die Anerkennung, die ich verdient habe? Ist mein Gegenüber etwas anderer Meinung und kritisiert mich?
Im Umgang mit narzisstischen Vorgesetzten und KollegInnen ist die Kommunikation von entscheidender Bedeutung. Meist ist es hilfreich den Kommunikationsfokus auf die Sachebene zu legen und beharrlich immer wieder zu dieser zurückzukehren. Hier kann ein Kommunikationstraining sowie das Erlernen zentraler Konfliktmanagement Skills hilfreich sein. Manchmal ist das individuelle Beziehungsgeflecht mit der oder dem VorgesetztIn oder MitarbeiterIn sehr komplex. In diesem Fall kann der Umgang mit der narzisstischen Person auch der Fokus eines Einzelcoachings werden.
Wenden Sie sich gerne an uns, wenn Sie Unterstützung brauchen. Wir coachen in unseren Räumlichkeiten in Berlin-Mitte oder auch per Video.
Psychologin (B.Sc., M.Sc.) Leonie Derwahl